Die Revolutionen von 1848 sind eine historiographische Herausforderung. Das liegt an der Zahl der Akteure und Schauplätze und an der Chronologie: Als die letzten Revolutionen begannen, waren die ersten bereits niedergeschlagen. Europäische Geschichten der Revolution neigten bisher dazu, ein Land ins Zentrum zu stellen (wie Michael Rapport mit Frankreich [1]) oder strukturelle Aspekte hervorzuheben. [2]
Christopher Clark geht es dagegen gerade um die Komplexität, und er macht die Herausforderung noch einmal größer, indem er nicht nur ganz Europa in den Blick nimmt (von Portugal bis zu den Ionischen Inseln, von Skandinavien bis Sizilien), sondern auch die Karibik, Indien, Australien, Nord- und Westafrika, Süd- und Nordamerika. Allein China und Japan bleiben außen vor.
Das Ergebnis ist ein großes Buch, nicht nur vom Umfang her, sondern auch in der Umsetzung. Es basiert auf einer umfassenden Quellenrecherche, die sich nicht zuletzt die Digitalisierung von Zeitungen, Pamphleten und Memoiren zu Nutze macht, um eingefahrene Narrative zu hinterfragen oder mit neuen Details anzureichern. Es ist unwahrscheinlich, dass irgendjemand das Buch lesen kann, ohne etwas Neues zu erfahren; bei mir waren es etwa das Ausmaß der Intervention der auswärtigen Gesandtschaften in die sizilianische Revolution, die Sonderstellung der Revolution in der Walachei oder die teilweise paradoxen Folgen der Emanzipation von Sklavinnen und Sklaven im Senegal.
Clark optiert für eine lange Vorgeschichte (ein gutes Drittel des Buches), eine zunächst chronologische, dann thematische Schilderung der Revolution (ca. 40%) und Gegenrevolution (ca. 16%) sowie ein vergleichsweise abruptes Fazit (ca. 8%).
Die lange Vorgeschichte der Revolution, die bis 1789 zurückgreift und auch Regionen behandelt, in denen keine Revolution ausbrechen sollte, macht die verschiedenen Konflikte sichtbar, die 1848 eine Rolle spielen sollten: die soziale Frage (mit der das Buch beginnt), Geschlechterverhältnisse, religiöse Dynamiken, Rechtsordnungen, nationale Bewegungen, Kolonialismus. Die Darstellung nährt sich dabei immer stärker einer chronologischen Erzählung an, bis sie mit dem Schweizer Sonderbundskrieg und der französischen Bankettbewegung an der unmittelbaren Schwelle der Revolution angekommen ist.
Die Schilderung der Revolution setzt zunächst - für Sizilien, Neapel, Paris, Wien, Pest, Berlin, Mailand, London, Den Haag und Spanien - diese dichte Beschreibung fort, um dann nachvollziehbar zu konstatieren, dass sie an ihre Grenzen stößt. In der Folge treten daher Themen in den Vordergrund. Nach den "Explosionen" geht es um Regimewechsel, Emanzipation (von Frauen, Sklaven, Juden), um "Entropie", also die Ableitung von Energie in diffuse Richtungen, sowie um die Gegenrevolution (unter Einschluss der zweiten Welle der Revolutionen, also etwa der Republiken in Rom oder Baden). Dieser Abschnitt endet mit den Toten der Revolution und der Emigration. Vor dem eigentlichen Schluss, der über Analogien zu den Revolutionen in der Gegenwart handelt, folgt ein Abschnitt über die Folgen der Revolution für die 1850er und 1860er Jahre.
Diese kunstvolle Komposition führt dazu, dass man einzelnen Episoden mehrfach begegnet, mal als Fortsetzungsgeschichte (etwa die Ausgabe und die Konfiskation der hölzernen und tönernen Gewehrattrappen der Bürgergarde von Votice), mal als Wiederholung (die Einladung Palackýs zum Frankfurter Vorparlament auf Seite 526, 731, 802 etwa).
Natürlich gibt es bei einem solchen Werk die eine oder andere inhaltliche Petitesse: Das Vorparlament in Frankfurt etwa war, anders als auf Seite 672 angegeben, nicht gewählt - siehe den eingeladenen Palacký -, obgleich viele Abgeordnete einzelstaatlicher Parlamente zu seinen Mitgliedern zählten. Das ändert freilich nichts an Clarks Kernaussage, dass in dem Gremium zwei Vorstellungen revolutionärer Legitimität aufeinanderprallten.
Besonders anregend sind die Perspektivenwechsel. Das gilt etwa für die Rolle von Frauen in der Revolution. Clark macht einerseits sichtbar, dass es an vielen Orten intensive Diskussionen über eine Gleichstellung mit Männern in politischer, sexueller und rechtlicher Hinsicht gab, und zeigt andererseits eindrücklich, dass diese in der Revolution ein marginales Thema blieb. Auch liberale und radikale Politiker neigten dazu, Spott und Hohn über weibliches Engagement in dem Bereich, den sie als ihre Öffentlichkeit betrachteten, auszuschütten. Damit benennt Clark eine zentrale Leerstelle in dem revolutionären Bestreben nach Emanzipation. Er macht sie so stark, dass man sich bei der Lektüre fragt, ob hier nicht sogar eine Forschungslücke aufscheint. Nahmen die männlichen Akteure wenigstens ihr Legitimationsnarrativ, dass sie Haushalte, nicht Einzelpersonen vertraten, ernst? Gibt es vor diesem Hintergrund eine noch zu erforschende Rolle von Frauen verheirateter Abgeordneter als - modern formuliert - Leiterinnen von Wahlkreisbüros, Lobbyistinnen, Lektorinnen, oder dominierte auch im familiären Binnenverhältnis eine harte Trennung der öffentlichen und nicht-öffentlichen Sphären?
Clark behandelt die formale Politik, vor allem die 1848 auf den ersten Blick zentrale Frage der Wahlen, eher knapp (so gibt es in dem reich illustrierten Buch nur eine einzige entsprechende Tabelle, zur französischen Präsidentschaftswahl). Das Bild der Entropie wirft aber das Problem auf, ob eine in der Revolution unter weitgehend neuen Bedingungen getroffene Entscheidung für bestimmte Personen als parlamentarische Vertreter Erwartungen weckte, die auch eine Förderung lokaler Interessen im jeweiligen Parlament umfassten. Die Fähigkeit, diese Erwartung zu erfüllen trug in dieser Perspektive mehr dazu bei, das Vertrauen in die Folgen der Revolution zu stärken oder - nicht selten - zu schwächen als die Momentaufnahme der Wahl und die Diskussionen der Parlamentarier unter sich. Auch diese implizite Frage könnte weitere Forschungen anregen.
Clark erklärt den Erfolg des Anfangs der Revolution vor allem damit, dass in der überdeterminierten Krisensituation von 1848 eine Revolution aus allen möglichen Gründen ausbrechen konnte: wegen eines Witzes, eines zufälligen Pistolenschusses oder der Ankündigung einer eigentlich gar nicht geplanten Versammlung. Das führte selten zu stabilen Strukturen. Dagegen konnten die alten Gewalten dort, wo sie noch existierten (also - außerhalb Frankreichs - fast überall), den Zeitpunkt des Gegenschlags wählen und ihn mit großer Brutalität ausführen, zumal ihnen die wachsende Furcht in der Bevölkerung entgegenkam. Das ist insofern überraschend, als die regierenden Monarchen und ihre Berater bei Clark im Vorfeld der Revolution ziemlich schlecht wegkommen: Schließlich ließen sie die Krisen nicht nur eskalieren, sondern nahmen sie teilweise gar nicht wahr. Als pointiertes Beispiel fungiert der König der Niederlande, der nicht etwa aus Weitsicht politische Konzessionen machte, sondern weil er sich erpressbar gemacht hatte.
Hier stellt sich die Frage, welchen Beitrag Clarks Fokus, der im Wesentlichen bis Sommer 1849 reicht, zu diesem Eindruck unmittelbar erfolgreicher Repression leistet. Zu diesem Zeitpunkt waren zahlreiche Konflikte noch ungelöst, einige unerwartete Positionswechsel noch nicht vollzogen, zahlreiche moderatere Akteure noch nicht verfolgt. In den folgenden Jahren zeigte sich etwa im kurhessischen Verfassungskonflikt oder bei dem Kölner Kommunistenprozess, dass auch Aktionen der Reaktion im politischen wie medialen Desaster enden konnten. Denn Monarchisten verschiedener Couleur sahen sich zunächst ähnlichen Herausforderungen gegenüber wie die Revolutionäre: Unter hohem Zeitdruck Lösungen anbieten zu müssen, deren Umsetzbarkeit 1848 wie 1849 und 1850 auch von der ihrerseits instabilen öffentlichen Zustimmung in einem sich rasch wandelnden medialen Umfeld abhing.
Clark präsentiert Ereignisse wie den 6. Januar 2021, die Blockade Ottawas oder die Gelbwesten als mögliche aktuelle Analogien. Es handelt sich jeweils um Reaktionen auf multiple Krisen, die (zumindest scheinbar) keine klaren Führungsstrukturen haben. Angesichts der vielen Facetten der Revolutionen von 1848, die Clark rekonstruiert, ist nicht ganz klar, wie weit die Analogie trägt - schließlich zeigte sich im Ergebnis, dass die Unterschiede offenbar (noch) überwiegen, vielleicht in Folge struktureller Veränderungen: Anders als die Regierungen von 1848 verfügte beispielsweise die kanadische Regierung 2022 nicht nur über polizeiliche oder militärische Möglichkeiten, um den Protest zu beenden, sondern auch über den unmittelbaren Zugriff auf Zahlungsströme - die wiederum für moderne Proteste wichtiger zu sein scheinen, als sie es im Jahr 1848 waren.
Das Ende des Bandes eröffnet somit Fragehorizonte, zu denen man sich eigentlich ein zweites Buch wünscht. Einer bezieht sich auf die Weichenstellungen nach 1850. Clark ist hier relativ optimistisch: Die Erfahrungen der Revolutionen von 1848 hätten dazu geführt, dass die soziale Frage auch von konservativen Regierungen ernst genommen wurde. Man könnte auch das anders sehen: Die nach 1850 vielfach eskalierende Sanktionierung von Vereinen, Bewegungen und Personen, die einer immer weiter um sich greifenden Reaktion ein Dorn im Auge waren, könnte auch dazu geführt haben, dass auf Selbstorganisation und Aushandlungsprozessen basierende Lösungen hinter paternalistischen zurückstehen mussten.
Es wäre aber völlig unangemessen, mit dieser Frage zu schließen. Indem Clark den europäischen Charakter der Revolution stark macht, relativiert er in produktiver Weise die Bedeutung (rein) nationaler Agenden für die Revolution(en). Und er zeigt erstmals, dass eine Geschichte der vielen Revolutionen, die gesamteuropäisch, facettenreich, differenziert, quellennah und trotzdem analytisch scharfsichtig ist, geschrieben werden kann.
Anmerkungen:
[1] Mike Rapport: 1848. Revolution in Europa, Stuttgart 2011.
[2] Jonathan Sperber: The European Revolutions, 1848-1851, 2. Aufl., Cambridge 2005.
Christopher Clark: Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, Klaus-Dieter Schmidt und Andreas Wirthensohn, München: DVA 2023, 1164 S., 57 s/w-Abb., ISBN 978-3-421-04829-5, EUR 48,00
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