In den 1960er Jahren konnte die DDR den Wettlauf um das erste kommerzielle Kernkraftwerk auf deutschem Boden für sich entscheiden: Im Mai 1966 ging das Kernkraftwerk Rheinsberg in Betrieb (Nennleistung 70 Megawatt) - mehr als sechs Monate, bevor in der Bundesrepublik das Kernkraftwerk Grundremmingen (Nennleistung 237 Megawatt) ans Netz ging. Der Hallenser Historiker Sebastian Stude beschreibt u.a., welchen Preis das frühe Anfahren des Reaktors vom sowjetischen Typ WWER (Wasser-Wasser-Energie-Reaktor) hatte. Später sollten mehrere Reaktoren in Greifswald folgen - die ersten beiden Stendaler Kraftwerksblöcke wurden bis 1989 nicht mehr fertig gestellt.
Stude widmet sich der Geschichte des brandenburgischen Kraftwerksprojektes und der verschiedenen Generationen der "Kernkraftwerker". Er bettet diese sowohl in die Kernenergie- als auch in die Gesellschaftsgeschichte der DDR ein. Dabei ist das Kernkraftwerk ein gutes Beispiel dafür, wie die SED-Führung seit Mitte der 1950er Jahre Herrschaftslegitimation mittels Modernisierung anstrebte. Die Kernenergie entwickelte sich zum festen Bestandteil der "wissenschaftlich-technischen Revolution". Ziel war die kaum begrenzte Produktion von günstigem, sauberem und sicherem Strom. Allerdings verkehrte sich die Idee ins Gegenteil. Die DDR-Kernenergiewirtschaft unterlag insbesondere sowjetischen Abhängigkeiten, was Stude durch Aussagen zum Gesamtsystem Kernenergie im Ostblock verdeutlicht.
Quasi als Startkapital und als "wertvollste Reparationsleistung" [1] der DDR kann der Aufschluss eines der weltweit größten Uranvorkommens (wenn auch mit minderem Urangehalt) im südlichen Thüringen und in Sachsen gelten: Nachdem sich die Sowjetunion den Zugriff für ihr Atomwaffenprogramm gesichert hatte, gab sie dem Drängen der SED-Führung nach der Gründung eines eigenen Staates nach. Das Uran wurde in die Sowjetunion geschafft und dort im militärischen und zivilen Nuklearprogramm, u.a. zu Kernbrennstoff, weiterverarbeitet. Diesen bezogen die Ostblockstaaten ebenso wie das Reaktordesign aus der Sowjetunion. Die abgebrannten Brennelemente samt Spaltprodukten, u.a. Plutonium, wurden wieder zum sozialistischen Bruderstaat zurückgesandt. Daher kamen eigene DDR-Reaktorentwicklungen nicht über das Papierstadium hinaus und auch auf einen "Schnellen Brüter" oder die Wiederaufarbeitung musste verzichtet werden, was das Politbüro 1965 auch beschloss. Jedoch bedeutete das auch, dass der problematische hochradioaktive Abfall in der UdSSR verblieb. Schwach- und mittelaktive Abfälle wurden ab 1978 in dem ehemaligen Salzbergwerk Morsleben endgelagert, was Stude - der die Licht- und Schattenseiten der DDR-Kernenergiewirtschaft ansonsten gut charakterisiert - leider nicht thematisiert.
Basis der gut recherchierten Studie ist eine breite archivische Quellengrundlage: So konnten neben den einschlägigen Bundesarchiv- und Stasi-Unterlagenbeständen erstmals die Überlieferungen im Rheinsberger Betriebsarchiv ausgewertet werden. Darüber hinaus wurden Zeitzeugeninterviews vom schichtleitenden Ingenieur bis zur Betriebsköchin geführt.
Nach der Forschungslage und den methodischen Grundlagen widmet sich Stude im Folgenden der DDR-Kernenergiewirtschaft (25-127) und der engeren Geschichte des Rheinsberger Kernkraftwerksprojektes wie der Standortauswahl, dem Baufortschritt und der Entwicklung in der Region (128-195). Danach behandelt er den "Kernkraftwerker", die verschiedenen Betriebsphasen und das örtliche Umfeld im Wandel (196-268). Im Kapitel "Sicherheit" (269-328) wird neben den lokalen Aktivitäten der Staatssicherheit auf Sicherheitstechnologien und -risiken, u.a. auf die "Ermessensentscheidung" der Laufzeitverlängerung, eingegangen. Das fünfte Kapitel zur Stilllegung und zum Rückbau startet mit dem "nüchternen Trauerbankett" anlässlich des 20-jährigen Kraftwerkjubiläums. Nach der Außerbetriebnahme und dem "sicheren Einschluss" wird der bis heute dauernde Rückbau thematisiert. Den Abschluss des Textes bildet die konzessive Zusammenfassung (348-359). Ein Personen- oder Ortsregister fehlt bedauerlicherweise, was den Zugriff auf und die Herstellung von Zusammenhängen vereinfacht hätte.
An der ein oder anderen Stelle hätte sich Technikhistoriker:innen vielleicht mehr Informationen, beispielsweise zu den verschiedenen Vor- und Nachteilen der ersten sowjetischen WWER-70 Megawattreaktorgeneration, gewünscht oder auch zu den Stör- und Zwischenfällen in Rheinsberg. Im Gegensatz zum ersten kommerziellen westdeutschen Reaktor, der nach einem Störfall bereits elf Jahre nach Inbetriebnahme stillgelegt und nicht weiter betrieben wurde, wurde die Genehmigung für den Rheinsberger Reaktor über die ursprünglich veranschlagte Betriebsdauer von 20 Jahren hinaus um weitere fünf Jahre verlängert. Nach dem bisher schlimmsten Reaktorunfall im April 1986 in Tschernobyl reagierte die DDR-Führung anders als in der Bundesrepublik. Während hier in allen Parteien der Ausstieg aus der Kernenergie diskutiert wurde, beschloss dort das Politbüro den forcierten Ausbau der Kernenergie - mit sowjetischen Reaktoren. Dass die Ressourcen und Möglichkeiten der DDR-Kernenergiewirtschaft dabei überschätzt wurden, zeigen etwa die Zeitüberschreitungen beim Bau der Stendaler Reaktoren. Die "Kluft zwischen Visionen und Wirklichkeiten" [2] wurde immer größer. Sowohl den überdimensionierten Planungen als auch dem Betrieb der Kernkraftwerke Rheinsberg und Greifswald bereitete die Wiedervereinigung schnell ein Ende. Nachdem der Rheinsberger Reaktor im Herbst 1989 für Routinearbeiten abgeschaltet worden war, ging er nie wieder ans Netz.
Der große Pluspunkt von Studes Studie, mit der er im Jahre 2020 in Halle promoviert wurde, besteht in der Einbettung der Fallstudie "Kernkraftwerk Rheinsberg" in das Macht-, Herrschafts- und Gesellschaftssystem der DDR. Hier zeigt sich die profunde Quellenkenntnis des ehemaligen Mitarbeiters der Stasi-Unterlagenbehörde, beispielsweise, wenn er die Stimmungsberichte der Belegschaft als zusätzliche Quelle auswertet. Dabei zeigt sich im Kleinen, dass der Einfluss der Staatssicherheit trotz Allwissenheitsmythos mangels Ressourcen und technologischem Know-how stark begrenzt war. Sehr gut arbeitet Stude den "Kernkraftwerker" als Typus eines neuen Ingenieur-Arbeiters (Stefan Heym) heraus. Dieser neue Arbeitertypus war ein Leitbild des neuen sozialistischen Menschen, der auf dem 10-Mark-Schein der DDR verewigt wurde: eine Kernkraftwerkerin als Maschinistin in der stilisierten Leitwarte des Kernkraftwerks Rheinsberg.
Anmerkungen:
[1] Ilko-Sascha Kowalczuk: Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR, Bonn 2013, 33. https://www.sehepunkte.de/2014/02/23119.html
[2] Frank Uekötter: Atomare Demokratie - Eine Geschichte der Kernenergie in Deutschland, Stuttgart 2022, 194. https://www.sehepunkte.de/2022/10/37121.html Ähnlich Mike Reichert: Kernenergiewirtschaft in der DDR. Entwicklungsbedingungen, konzeptioneller Anspruch und Realisierungsgrad 1955-1990, St. Katharinen 1999, 356.
Sebastian Stude: Roter Strom. Die Geschichte des Kernkraftwerkes Rheinsberg 1956-2000, Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2022, 395 S., ISBN 978-3-96311-747-3, EUR 48,00
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