"[...] als ich dieses Buch schrieb, hatte ich das Gefühl, die Menschen von 1848 könnten sich in uns wiederfinden." (1024) Mit diesem Satz endet Christopher Clarks neues Buch 'Frühling der Revolution.'
Auch heute leben wir ihm zufolge in Zeiten des 'Übergangs', erleben eine 'Polykrise', deren Lösung weit entfernt scheint. Aus diesen Gemeinsamkeiten erwachsen für Clark eine neue Aktualität und Relevanz der Revolutionen von 1848. Historisches Wissen über diese Revolutionen kann helfen, gegenwärtige Entwicklungen besser einzuordnen. Beispielhaft benennt Clark den Sturm auf das Kapitol in Washington D.C. oder die Protestmärsche der Gelbwesten in Frankreich: "die instabilen Führungsstrukturen, die teilweise Verschmelzung disparater Ideologien und der mobile, proteische und improvisierte Charakter eines Großteils des heutigen politischen Diskurses erinnern an 1848." (1024).
Keine andere Revolution in der Geschichte Europas übertraf die Revolutionen von 1848 an Intensität und - sogar transkontinentaler - Reichweite. Für Clark handelt es sich um "die einzig wahrhaft europäische Revolution der Geschichte" (9) mit "interkontinentale[n] Resonanzen" (955). Entsprechend entfaltet Clark in seinem Buch ein gewaltiges europäisches Panorama der Revolutionen von 1848 und ihrer transnationalen Verflechtungen.
Schon durch seinen Umfang von mehr als 1000 Seiten in der deutschen Fassung sticht das Buch aus der Welle der Publikationen zum 175. Jubiläum der Revolutionen 1848/49 heraus. Dieses Mehr an Platz nutzt Clark gekonnt für eine breite Darstellung zeitgenössischer Quellen und Berichte aus allen Teilen Europas und den ehemaligen Kolonien. Während der Corona-Pandemie habe er viel Zeit für umfassende Recherchen und Lektüre gehabt, erläuterte er bei einer Buchvorstellung in Berlin. Vielfach handelt es sich um regionale, unbekanntere Quellen unterschiedlichster Gattung: Erinnerungen, soziale Studien und Zeitungen ebenso wie Literatur, Bilder und Musik, die jeweils als gelungener inhaltlicher Einstieg in die Thematik fungieren. So leitet die "Geschichte eines Pflastersteins", eines politischen Märchens, das 1831 in der Lyoner Zeitung 'La Glaneuse' erschien, die Darstellung der Pariser Juli-Revolution von 1830 ein.
Noch lebendiger wird die Darstellung durch die ausführliche auch bildhafte Vorstellung vielfältiger Akteur:innen wie beispielsweise Victor Petit-Frére Mazuline, der nach einer Jugend als Sklave auf Martinique Mitglied der Verfassungsgebenden Nationalversammlung Frankreichs wurde, oder Prinzessin Cristina Trivulzio di Belgiojoso, eine scharfsinnige Beobachterin der Mailänder Revolution, die sich um die Organisation der Lazarette verdient machte.
Clark steigt mit der großen sozialen Not vor der Mitte des 19. Jahrhunderts ein, die den Boden für die Revolutionen bereitete und eine wesentliche Motivation vieler Aufständischer war. Dennoch waren soziale Missstände für ihn nicht der direkte Auslöser. Er kann zeigen, dass Gebiete mit den bittersten Hungersnöten geographisch nicht mit denen der stärksten revolutionären Erhebungen übereinstimmten. Wichtige Auslöser lagen für ihn zusätzlich zu grundlegenden Ursachen wie politischen Ideen und unmittelbaren Anlässen in einer "mittlere[n] Ebene der Kausalität: das Anwachsen der politischen Spannung, die Verhärtung der Sprache, der Zusammenbruch eines Konsenses, und die Erschöpfung der Kompromissbereitschaft, das Aufkommen von Fallstricken - kurz: eine politische Dynamik, die [...] in Monaten und Wochen gemessen wird" (411). Seinen Stoff präsentiert Clark klar thematisch strukturiert, wobei zentrale Themen als rote Fäden ordnend die Lektüre durchziehen. Solche wesentlichen Ordnungskonzepte der Zeit sind für Clark politischen Strömungen wie Liberale, Radikale und Konservative, Nationalismus, Patriotismus, die Religionen sowie Patriarchat und Sklaverei.
Für die vier Emanzipationsbewegungen - Frauen, jüdische Menschen, versklavte Schwarze und versklavte Roma - arbeitet Clark in einem eigenen Kapitel sowohl Gemeinsamkeiten (chronologische Struktur, narrativer Rahmen), als auch entscheidende Unterschiede heraus: Das waren "separate Fundamente, die so tief in der modernen europäischen Kultur verankert waren, dass sie urtümlich, natürlich und gottgewollt erschienen" (838f.). Das Ergebnis war ambivalent, stieß die Revolution doch nicht nur "das Tor zur Freiheit auf [...], [sondern] setzte auch Gegenkräfte frei" (639). Die Auseinandersetzung insbesondere zwischen Liberalen und Radikalen, ihre divergierenden Absichten und ihr je eigenes Verständnis von der Revolution sind ein weiterer roter Faden, den Clark entwickelt. Dass es ihnen nicht gelang, "einander zuzuhören", war "eine der zentralen Tragödien von 1848." (1020f). Wenn er die "liberale Vision einer Metapolitik" - damals wie heute - für unverzichtbar erklärt (1020), scheinen die Sympathien des Autors durch.
Gewalt als zentrales Motiv von Aufständen und ihrer Niederschlagung sowie daraus resultierende Angst sind weitere zentrale Themen. Clark entfaltet auch hier ein transnationales Panorama von der brutalen Niederschlagung des Aufstandes der Seidenarbeiter von Lyon durch die Regierungstruppen 1834, über enthemmte bäuerliche Gewalt in Sizilien, die die Elite das Fürchten lehrte, bis zur Auslöschung ganzer Dörfer und ihrer Bevölkerung in Norditalien durch die Österreicher im Rahmen der Gegenrevolution.
Erst ab Seite 371 beginnt im Kapitel 'Explosionen', die Darstellung der Revolutionen mit dem Aufstand in Sizilien. Clark zufolge gab es 1848/49 keine 'Welle' von Revolutionen im Sinne eines Dominoeffektes. Vielmehr waren sie voneinander abhängig, "weil sie verwandt waren, im gleichen [...] Wirtschaftsraum lagen und sich innerhalb gleichartiger kultureller und politischer Ordnungen abspielten, beschleunigt von Prozessen des soziopolitischen und ideellen Wandels, der schon immer transnational vernetzt war" (391).
Das Kapitel Entropie beschäftigt sich mit den "unzähligen Wegen der Menschen von 1848". Außergewöhnlich ist für Clark nicht die Tatsache, dass die Revolutionen die Menschen sowohl spalteten als auch vereinten, sondern vielmehr "die Geschwindigkeit des Übergangs von Einigkeit zum Konflikt und dessen Ausmaß" (644).
Nationalismus war dabei "das am weitesten verbreitete, emotional intensivste und ansteckendste Phänomen der Revolution" (736). Clark vergleicht seine Wirkung bildhaft mit der von Heroin: "So erzeugte er [der Nationalismus] Zustände unvergesslichen Hochgefühls und eine erstaunliche Bereitschaft, alles zu riskieren. Aber er untergrub auch den Zusammenhalt der revolutionären Bewegungen" (746f.). Im Bereich der Geopolitik waren die "transnationalen revolutionären Netzwerke" der "konterrevolutionäre[n] Internationale" in der Schlussphase der Revolutionen dann klar unterlegen (916).
Die von Historiker:innen häufig gestellte Frage nach dem Erfolg der Revolutionen hält Clark für wenig zielführend, da sich ein solcher angesichts der "Vielstimmigkeit, mangelnden Koordination und der Überlagerung zahlreicher sich überschneidender Intentionen und Konflikte" (1015) nicht eindeutig bewerten lasse. Stattdessen plädiert Clark dafür, die vielfältigen Auswirkungen der Revolutionen zu messen. Die Wirkung der Aufstände vergleicht er mit einer "Kollisionskammer", die als eine Art "Teilchenbeschleuniger" die Menschen und die politische Landschaft nachhaltig veränderten (1015), Reste des Feudalismus beseitigten (971) und "einen zügigen und dauerhaften konstitutionellen Wandel [bewirkten]" (13). Andererseits, konzediert er, blieben prekäre Bevölkerungsschichten als wesentliche Träger der gewaltsamen Aufstände, ebenso wie Frauen von politischer Teilnahme ausgeschlossen. Aber auch aus Ambivalenzen der verschiedenen Emanzipationsprozesse resultiert für ihn keinesfalls, dass die Revolutionen gescheitert seien. Schließlich habe es in diesem Bereich wichtige Fortschritte vor allem auf dem "Gebiet der Interessenvertretung" gegeben (639). Insgesamt sind die Revolutionen von 1848 - so Clarks Resümee - nicht gescheitert.
Auf eine umfangreiche Darstellung des Forschungsstandes verzichtet Clark, verweist dafür auf den intensiven Austausch mit Kolleg:innen und gewinnbringende Gespräche als Forschungsinstrument. Nur ausnahmsweise bezieht Clark sich explizit auf Forschungsdiskussionen, zum Beispiel wenn er die Metapher der 'Welle' für die Revolution 1848 betrachtet (391). Leider fehlt ein Quellen- und Literaturverzeichnis, was eine Nutzung für eine tiefergehende Beschäftigung erschwert. Benutzte Quellen und Literatur lassen sich nur etwas mühsam über die rund 2000 Anmerkungen nachvollziehen. Leider sind Clarks facettenreiche historische Bildanalysen aufgrund der geringen Größe der Abbildungen teilweise kaum nachzuvollziehen. Das gilt in besonderem Maße für das 18qm große Gemälde "Lamartine verwehrt am 25. Februar 1848 der Roten Fahne das Eindringen in das Pariser Rathaus" von Henri Félix Emmanuel Philippoteaux, das im Buch nur auf einer viertel Seite abgedruckt ist (643).
Spannend und sprachgewaltig leistet Clark mit seinem Werk einen wichtigen Beitrag, die Revolutionen 1848/49 einem breiteren Lesepublikum nahezubringen und zugleich die Komplexität der Vorgänge und ihrer globalen Bezüge und Resonanzen dem Forschungsstand entsprechend einzuordnen. Die Darstellung und Analyse der regionalen, nationalen und transnationalen Ebene der Revolutionen und ihre Verknüpfung mit biographischen Zugängen macht das Buch außerdem zu einer fruchtbaren Grundlage für die demokratiepädagogische Arbeit an Gedenkorten und Schulen. Da das Buch zugleich übersichtlich, komplex und gut lesbar und strukturiert ist, kann es als herausragende Überblicksdarstellung gelten.
Christopher Clark: Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, Klaus-Dieter Schmidt und Andreas Wirthensohn, München: DVA 2023, 1164 S., 57 s/w-Abb., ISBN 978-3-421-04829-5, EUR 48,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.