Der Band bietet eine Auswahl aus den rund 70 Beiträgen, die auf der Tagung "Baltische Bildungsgeschichte(n). Baltic Educational Histories" im September 2016 an der Universität Tartu gehalten wurden. Die internationale Konferenz war ausdrücklich eine Veranstaltung der baltischen Germanistik (11), hinter der als "Grundidee" der "Blickwinkel der Literaturwissenschaft" stand (16). Als Initiator oder geistiger Vater kann der Marburger Literaturwissenschaftler Jürgen Joachimsthaler (1964-2018) bezeichnet werden, der infolge seiner Erkrankung jedoch nicht mehr zur Konferenz anreisen konnte. Ihm ist der Sammelband gewidmet.
Der hier zugrunde gelegte Bildungsbegriff ist außerordentlich weit gefasst, sodass auf der Konferenz auch abseitig erscheinende Themen Behandlung fanden wie etwa "Bildung am Bösen? Černobyl' und Ignalina - vom (post-)kolonialen Erbe zur europäischen Frage" von Benjamin Naujoks, der allerdings nicht im Band enthalten ist. Die letztendlich in den Band aufgenommenen Beiträge lassen sich dagegen im Allgemeinen leicht mit dem Konzept "Bildung" in Zusammenhang bringen, wozu das Herausgeberteam vier Themenbereiche formuliert hat: "Konzepte der Bildung" (fünf Beiträge), "Institutionen der Bildung" (vier), "Akteure der Bildung" (sechs) und "Bildung in der Literatur" (fünf).
Den 20 Beiträgen vorangestellt wurde der Eröffnungsvortrag der Tagung von Heinrich Bosse. Er behandelt "Ständische Bildung in den russischen Ostseeprovinzen im 18. Jahrhundert", und die explizite Beibehaltung des Vortragsduktus kann als sehr gelungen betrachtet werden, da man sich auf diese Weise tatsächlich kurz auf der Konferenz wähnt. Bosse schlägt, anders als der Titel vermuten lässt, einen weiten Bogen vom 17. bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein und bietet damit eine kompetente Einführung in das Thema. Ganz nüchtern konstatiert er, dass "die Kirche weiß, was eine Schule ist und wozu sie gut ist, aber der Landtag, fixiert auf Ökonomie und Hausunterricht, weiß es nicht. [...] die regierende Ritterschaft verhindert im 18. Jahrhundert die Alphabetisierung der Bauern, die im 17. Jahrhundert unter dem Schutz des Staates begonnen hatte" (55). Der Mythos von der "guten alten schwedischen Zeit", der in Estland und Lettland gepflegt wird, entbehrt also durchaus nicht einer Grundlage auch und gerade im Bildungsbereich.
Von den Artikeln aus dem ersten Block zu den Bildungskonzepten ist Hans Graubners kluge und eloquente Darstellung zur Differenz zwischen den Erziehungs- und Bildungskonzepten bei Johann Georg Hamann und Johann Gottfried Herder hervorzuheben. Sie gipfelt sogar in einem schönen Bonmot: "Herder geht es darum, was der Lehrer ausrichten, Hamann darum, was er anrichten kann" (67). Ljubov Kisseljova analysiert die verschiedenen Herrschaftsideologien in Lehrwerken höherer russischer Schulen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, während die drei folgenden Beiträge kleinere Bereiche behandeln und für ein begrenzteres Publikum gedacht sind: Rūta Eidukevičenė betrachtet die Rezeption deutschsprachiger Bildungskonzepte im Litauen der Zwischenkriegszeit, Kairit Kaur untersucht die Vermittlung der deutschbaltischen literarischen Kultur im heutigen Estland - wobei die Untersuchungsgrundlage allerdings sehr schmal (nur zehn Personen wurden befragt) und die Darstellung stilistisch weniger überzeugend ist -, und Heiko F. Marten und Sanita Martena brechen eine Lanze für das Lettgallische, "das in einem Kompendium zu Bildungsgeschichte(n) im Baltikum nicht fehlen darf" (137). Bei allem Respekt vor Minderheitensprachen oder Sprachvarietäten: Warum nun gerade das Lettgallische, nicht aber das Südestnische oder das Schemaitische oder das Karaimische "nicht fehlen darf", ist nicht recht ersichtlich. Diese rein soziolinguistische Darstellung fällt etwas aus dem Rahmen.
Die vier Beiträge zu den Bildungsinstitutionen sind jeweils profunde Detailstudien. Beata Paškevica untersucht die herrnhutische Lehrerausbildungsstätte der Pietistin Magdalena Elisabeth von Hallart in Wolmar, Michael Rocher beleuchtet das ebenfalls pietistische Waisenhaus von Alp, Marju Luts-Sootak legt überzeugend dar, dass auch die Gerichtsstube als Bildungsanstalt fungieren kann, indem sie die Entwicklung der Gerichtsbarkeit in Estland und Livland im 19. Jahrhundert auf der Grundlage umfangreichen Aktenstudiums nachzeichnet, und Markus Käfer behandelt das Bildungsprogramm der 1802 wiedereröffneten Universität Dorpat.
Am meisten Neues wird vielleicht in den folgenden sechs Beiträgen zu den Bildungsakteuren geboten. Das ist sicherlich bei Martin Klökers auf vielen neu erschlossenen Quellen fußender Abhandlung zu Heinrich Vestring (1562-1650) als Reformer des Revaler Schulwesens der Fall, die mehr als nur eine Biografie ist: Das gesamte Schulwesen der Stadt in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts entsteht plastisch vor den Augen des Lesers. Ulrich Kronauer bereichert unser Wissen über Jean-Jacques Rousseau durch die spezifische Behandlung von "Garlieb Merkels Rousseau", Gregor Babelotzky liefert neue Aspekte zu dem nicht unproblematischen Verhältnis von Jakob Michael Reinhold Lenz zu seinem Vater Christian David, Anja Wilhelmi widmet sich dem Verständnis von Bildungsvermittlung bei den deutschbaltischen Pastoren und Valérie Leyh räumt mit einigen Vorurteilen zur Familie von Medem in Kurland auf, die in der bisherigen Literatur möglicherweise überschätzt worden ist: "Für eine Veränderung der sozialen Verhältnisse in ihrem Vaterland konnten aber letztlich weder Friedrich von Medem noch Dorothea von Kurland noch Elisa von der Recke Wesentliches bewirken. Dem kolonialen Denken vermochten sie nicht zu entrinnen". (334) Anton Philipp Knittels Beitrag über die Kügelgens als typische Familie des deutsch-baltischen Bildungsbürgertums rundet diesen Block ab.
Abgeschlossen wird der Band mit fünf literaturwissenschaftlichen Beiträgen, die noch einmal zeigen, wie weit der Bildungsbegriff hier verstanden wird, da der Zusammenhang bei einigen Beiträgen nur indirekt gegeben ist: Das ist sicherlich nicht bei Ruth Floracks Artikel "Gelebte Bildung: Hochzeitsschriften aus der Sammlung Recke" der Fall, aber Alina Kuzborskas Abhandlung zu den Metai von Kristijonas Donelaitis kann den Zusammenhang nur durch die Erwähnung der "didaktische[n] Zwecke" (377) der Dichtung herstellen. Auch Lina Užukauskaitės Beitrag zur äsopischen Sprache der Sowjetzeit, der im Übrigen nichts Neues zum vielfach behandelten Thema des Schreibens unter Zensurbedingungen erbringt, schlägt mit seiner Fragestellung, ob die äsopische Sprache nicht ein "Bildungsauftrag der Schreibenden" sei, nur mit Mühe einen Bogen zur Fragestellung. Benedikts Kalnačs behandelt zwei lettische Autoren (Augusts Deglavs und Jānis Poruks), in deren Werken Bildung und das Motiv der Bildungsreise eine prominente Rolle einnehmen. Neue Aspekte zum Werk von Jaan Kross bietet der Beitrag von Dieter Neidlinger und Silke Pasewalck, in dem das Bildungsthema in diversen Werken des estnischen Autors herausgearbeitet und bewertet wird. Hier erweist sich die Heranziehung des von Hannah Arendt am Beispiel Rahel Varnhagens eingeführten Begriffspaars "Parvenü und Paria" (439 folgend) als durchaus erhellend.
Ein Anhang mit dem kompletten Tagungsprogramm, einer Gesprächsrunde, dem offiziellen Tagungsbericht, Kurzbiografien und Personen- sowie Ortsregister rundet den insgesamt gelungenen Sammelband ab. Einzig die mechanisch-konsequente Anführung anderssprachiger Ortsnamen in Klammern bei der Erstnennung in jedem Artikel wirkt fehl am Platze: Wozu gibt es dann die im Ortsregister integrierte Konkordanz, wo man doch nötigenfalls den anderen Ortsnamen fände?
Es ist nicht nur Platzverschwendung und stört den Lesefluss, sondern führt auch zu grotesken Stilblüten, wenn von den "Aufklärern in Riga (Rīga)" (63) gesprochen wird oder Herder sich 1764 "von Königsberg (Kaliningrad)" löst (67). Gerade im Falle der ehemaligen Hauptstadt Ostpreußens ist es schlicht unsinnig, da es hier 1946 eine Umbenennung gegeben hat und weder Jakob Lenz sein Studium in "Königsberg (Kaliningrad)" (283) begonnen haben kann noch im 18. Jahrhundert Texte aus "Königsberg (Kaliningrad)" (357) stammen können. Abgesehen davon, dass man sich unter den potenziellen Leserinnen und Lesern des Buches kaum eine Person vorstellen kann, die nicht weiß, dass das heutige Kaliningrad einst anders hieß: Könnte man einer Leserschaft nicht die Mündigkeit unterstellen, sich notfalls selbst um die korrekte oder bevorzugte Namensgebung zu kümmern? Die Infantilisierung der Benutzerinnen und Benutzer führt dann eben auch dazu, dass im Ortsregister erklärt wird, dass Kunda auf Estnisch Kunda heißt (496). Man kann es mit der politischen Korrektheit auch übertreiben.
Silke Pasewalck / Rūta Eidukevičienė / Antje Johanning-Radienė u.a. (Hgg.): Baltische Bildungsgeschichte(n) (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa; Bd. 78), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2022, 499 S., ISBN 978-3-11-099867-2, EUR 49,95
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