In der umfangreichen Literatur über Vertreibung, Flucht und Exil von Juden im Nationalsozialismus klafft eine häufig übersehene Lücke. Ausgerechnet jene Region, die in den späten 1930er Jahren als einzige noch antisemitisch Verfolgte aufnahm und zur rettenden Heimstatt tausender Emigranten wurde - der Balkan -, fand wenig akademisches Interesse. Allein das neutrale Jugoslawien versorgte mindestens 55.000 geflüchtete Jüdinnen und Juden aus Deutschland, Österreich, Polen, der Tschechoslowakei und weiteren Ländern. Andere fanden in Griechenland, Bulgarien und Albanien Unterschlupf. Eine noch größere Zahl unternahm es, auf illegalen Wegen über die Balkanroute, den letzten offenen Fluchtweg, nach Palästina oder in sichere Drittländer zu gelangen. Es mag der schwierigen Quellenlage oder aber einem vorurteilsbeladenen Blick zuzuschreiben sein, dass sich die einschlägige Literatur ganz überwiegend auf die westlichen Länder konzentriert. Lediglich über die Emigration jüdischer Wissenschaftler in die Türkei wurde bereits einiges publiziert [1].
Bojan Aleksov hat nach jahrelangen Recherchen ein ebenso umfassendes wie differenziertes Bild der jüdischen Emigration in und durch die Balkanländer gezeichnet. Das Buch ist chronologisch gegliedert. Es beschreibt den Exodus der Juden von der nationalsozialistischen Machtergreifung bis zur Annexion Österreichs, folgt den österreichischen Fliehenden nach dem 'Anschluss' und analysiert ausführlich die Politik der Vernichtung in den besetzten Ländern Jugoslawiens und Griechenlands. Die Shoa ist in der bisherigen Forschung freilich bereits wesentlich besser erforscht als die Zeit davor, wenngleich noch nicht erschöpfend.
Aleksov betrachtet in systematischen Kapiteln unterschiedliche Aspekte der jüdischen Fluchtgeschichte, wie etwa illegale Grenzübertritte, Scheinehen, Menschenschmuggel und die organisierte illegale Emigration nach Palästina. Am Beispiel der nordserbischen Kleinstadt Ruma beleuchtet er exemplarisch die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik in den besetzten Ländern. Glücklich konnte sich schätzen, so zeigt Aleksov, wer es auf italienisch okkupiertes oder kontrolliertes Gebiet, also Dalmatien, die Adriainsel Korčula oder Albanien geschafft hatte. Denn zwar war auch die italienische Armee in großem Umfang an Kriegs- und Menschheitsverbrechen beteiligt, jedoch behandelte sie die von den Deutschen verordneten antijüdischen Maßnahmen meistens dilatorisch. Dies rettete einer großen Zahl Verfolgter das Leben. Nicht zuletzt schlossen sich nicht wenige jüdische Geflüchtete dem Partisanenwiderstand an. Der allergrößte Teil der Juden überlebte den Holocaust in diesem Teil Europas allerdings nicht. Etwa 67.000 wurden in Rumänien, 65.000 in Jugoslawien und über 11.000 in Bulgarien ermordet.
Bojan Aleksov, Historiker am University College in London, hat die jüdische Emigration auf dem Balkan unter neuen Aspekten beleuchtet, indem er in erster Linie publizierte Erinnerungen, Manuskripte, Tagebücher und Interviews als Quellen verwendet. Er tut dies mit detektivischem Ehrgeiz und beeindruckender Vollständigkeit. Die grundlegenden Publikationen, etwa die von Anna Maria Grünfelder über die Shoa in Kroatien [2] und Walter Manoschek über die deutsche Besatzungsherrschaft in Serbien [3], haben vor allem die politisch-militärische und administrative Seite dokumentiert. Durch Ego-Dokumente, deren Quellenwert der Autor einleitend durchaus kritisch reflektiert, gelingt es Aleksov nun aber, sich auch den schwerer zugänglichen Themen von Flucht- und Alltagserfahrung, Identität, Otherness und Erinnerung der jüdischen Geflüchteten anzunähern. Die Fallstricke, die ein solcher Ansatz mit sich bringt - Heroisierung, Fiktionalisierung, selektive Themenwahl und Gefahr der Retraumatisierung -, hat er offengelegt, dann aber überzeugend für den Zugriff auf persönliche Zeugnisse und Repräsentationen Überlebender argumentiert: "They both conveyed and produced knowledge in ways that historiography cannot" (328).
Aleksovs Forschungen zeigen zu guter Letzt Folgendes: Entgegen einem geläufigen Vorurteil, das den Balkan primär mit Ethnogewalt und Völkerhass assoziiert, bezeugen die hier präsentierten Fluchtgeschichten eine beispiellose Hilfsbereitschaft der Aufnahmeländer gegenüber den Geflüchteten. Auch die Politik erwies sich großzügiger als alle anderen europäischen Länder und die USA, die ihre Grenzen vor dem Ansturm der Verfolgten verschlossen. Nach dem 'Anschluss' war Jugoslawien bald das letzte Land, das politischen und jüdischen Emigranten überhaupt noch Aufenthalt gewährte oder den (illegalen) Transit zu außereuropäischen Destinationen duldete. Oft waren es die Allerärmsten, die die Verzweifelten irgendwo unterbrachten, ernährten und vor ihren Peinigern versteckten. Damit schließt dieses Buch nicht nur eine schmerzliche Forschungslücke, sondern es vermag auch, tradierte Vorurteile zu konterkarieren.
Anmerkungen:
[1] Zuletzt z. B. Reiner Möckelmann: Transit Istanbul - Palästina. Juden auf der Flucht aus Südosteuropa, Darmstadt 2023.
[2] Anna Maria Grünfelder: Von der Shoa eingeholt. Ausländische jüdische Flüchtlinge im ehemaligen Jugoslawien 1933-1945, Wien 2013.
[3] Walter Manoschek: "Serbien ist judenfrei". Militärische Besatzungspolitik und Judenvernichtung in Serbien 1941/42, München 1995.
Bojan Aleksov: Jewish Refugees in the Balkans, 1933-1945 (= Balkan Studies Library; Vol. 34), Paderborn: Brill / Ferdinand Schöningh 2023, XLII + 389 S., ISBN 978-3-506-79174-0, EUR 109,00
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