Frauenpolitik und Sexualität(en) zählen zu den etablierten, wenngleich keineswegs überpräsenten Forschungsthemen der DDR-Geschichte. Jedoch sind beide Themenkomplexe bislang oft getrennt voneinander untersucht worden. Betonen Studien zur Frauenpolitik vor allem weibliche Handlungsspielräume in der sozialistischen Diktatur, heben Arbeiten zur Sexualität die Parallelität von liberalisierenden und repressiven Elementen hervor, wobei die Gewichtung beider Dimensionen häufig unterschiedlich ausfällt. Henrike Voigtländers Dissertation über Sexismus im DDR-Betrieb trägt dazu bei, beide Forschungsstränge stärker miteinander zu verknüpften und mit Fragen nach Herrschaftspraktiken zu verbinden.
Der Fokus auf die betriebliche Ebene hat den Vorteil, das Ineinandergreifen von Herrschaftsbeziehungen, Geschlecht und Sexualität in den praxeologischen Dimensionen differenziert herausarbeiten zu können, stellten Betriebe doch die "zentralen Vergesellschaftungskerne" (Martin Kohli) im Sozialismus dar. Sie gehörten damit auch zu den am stärksten durchherrschten Orten in der SED-Diktatur. So hat die Studie auch das Potenzial, Geschlecht und Sexualität als zentrale Kategorien in Forschungen zu betrieblichen Herrschaftsbeziehungen zu etablieren, zeigen sich dadurch doch die Grenzen der von der SED stets geschlechtsneutral gedachten Vergesellschaftung von Arbeiterinnen und Arbeitern. Als konzeptionelle Klammer nutzt Voigtländer einen an Michel Foucault angelehnten Sexismusbegriff, der sowohl diskriminierende als auch konsensuale Dimensionen erfasst und die stetige Neuaushandlung betont. Als Fallbeispiele dienen ihr der Volkseigene Betrieb (VEB) Carl-Zeiss Jena und die VEB Leuna-Werke, die nicht nur zu den wichtigsten Betrieben der DDR zählten, sondern sich auch durch ein "relativ ausgewogenes Geschlechterverhältnis" (43) auszeichneten.
In vier Hauptkapiteln vermisst Voigtländer ihr Forschungsfeld und beleuchtet das breite Akteursfeld, das in die Aushandlung von Herrschaft, Geschlecht und Sexualität involviert war. Das erste Kapitel betrachtet die betriebliche Umsetzung frauenfördernder Maßnahmen, welche die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern sollten, ohne jedoch die traditionelle Ernährerrolle des Mannes infrage zu stellen. Das zweite Kapitel widmet sich Sexual- und Paarbeziehungen und deren Regulierung im Betrieb, wobei neben den in der Studie meist im Fokus stehenden (weißen) ostdeutschen Frauen auch Migrantinnen und Migranten sowie Homosexuelle in den Blick geraten. Das dritte Kapitel untersucht, wie sexualisierte Gewalt bzw. sexuelle Grenzverletzungen in Betrieben trotz offizieller Tabuisierung im Kontext von parteioffiziellen Moraldiskursen und Arbeitsrechtskonflikten thematisiert und verhandelt werden konnten. Das vierte Kapitel schließlich beleuchtet die Rolle der Betriebe für die seit den 1970er-Jahren auf transnationaler Ebene zu beobachtende Sexualisierung von Unterhaltungsmedien.
Dass Voigtländer nicht nur die deutsche Forschung rezipiert, sondern ihren Gegenstand auch in die breitere internationale Forschungslandschaft zu den sozialistischen Diktaturen Ost(mittel)europas einbettet, zählt zu den großen Stärken der Arbeit, ebenso wie die breite Quellenbasis, die neben Archivdokumenten auch Interviews, Presse- und audiovisuelle Quellen umfasst. Eine große Schwäche der Arbeit ist allerdings, dass Voigtländer methodisch zwar auf zwei Betriebe fokussiert, ihr Material letztlich aber entlang der von ihr herausgearbeiteten Dimensionen des Sexismusbegriffs strukturiert. Nicht nur bleiben dadurch Potenziale der Mikrogeschichte ungenutzt, durch die auch das lokale Umfeld der Betriebe stärkere Berücksichtigung gefunden hätte. Auch geraten betriebliche Spezifika, diskursive Überlagerungen, Wandlungen und Differenzierungen aus dem Blick. Zudem wechseln sich immer wieder ausführlich rekonstruierte Fallbeispiele und allgemein gehaltene Betrachtungen ab, die streckenweise viel Bekanntes wiederholen. Durch eine stärkere Konzentration auf die Mikroebene hätte zudem vermieden werden können, dass viele herausgearbeitete Erkenntnisse am Ende unverbunden nebeneinanderstehen, ohne dass sich daraus ein Gesamtbild ergibt, aus dem sich konkretere Schlüsse zum Verhältnis von tradierten Verhaltensmustern und Herrschaftspraktiken in der DDR ziehen ließen.
Im Detail lassen sich indes spannende Einsichten gewinnen, die das bisherige Bild der DDR-Geschlechtergeschichte an vielen Stellen erweitern. Dazu gehören die im ersten Kapitel thematisierten weiblichen Selbstbehauptungsstrategien gegen "antifeministisch motiviert[e]" (57) Abwehrreaktionen von Männern gegen Maßnahmen der Frauenförderung, aber auch Überlegungen zu männlichen Netzwerkpraktiken und fehlenden weiblichen Äquivalenten. Besonders hervorzuheben ist auch die Untersuchung des betrieblichen Umgangs mit Homosexualität im zweiten Kapitel. Offene Homophobie galt angesichts der offiziellen Linie der SED in den Betrieben als unerwünscht, was homosexuellen Menschen durchaus Handlungsspielräume eröffnete, ohne dass Vorurteile gegen Homosexualität verschwanden. Dabei zeigt sich auch, wie die Betriebe ihre einstige Bedeutung als zentrale Orte des gesellschaftlichen Wandels einbüßten. Gesellschaftliche Veränderungen, die in den 1980er-Jahren außerhalb der SED-offiziellen Politik einsetzen, prallten hier ab. Ähnlich sah es beim parteilichen Umgang mit außerehelichen Liebesbeziehungen und Beziehungsproblemen aus. Stellten sich Parteiorgane in den 1970er-Jahren häufiger noch schützend vor Frauen, die wegen außerehelicher Beziehungen diskriminiert wurden, und behaupteten damit ihren Steuerungsanspruch, lehnten sie diese Schutzfunktion in den 1980er-Jahren zunehmend ab, als sich Beschäftigte immer häufiger mit ihren Eheproblemen an die Partei wandten und schnelle Lösungen etwa für Wohnraumprobleme erwarteten, was die Funktionäre aber überforderte. Das galt selbst für Fälle, in denen sich Frauen mit Gewalterfahrungen an die Partei wandten. Beachtung verdienen auch die Überlegungen zu mentalen Nachwirkungen von diktaturspezifischen Sprechmustern in der Zeit nach dem Systemwechsel von 1989/90, wie sie im dritten Kapitel mit Blick auf sexuelle Gewalt thematisiert werden. Jedoch hätte man sich solche zeitlichen Ausblicke auf den post-sozialistischen Umbruch auch für die anderen Themenfelder gewünscht. Überzeugend und anregend ist schließlich auch die Medienanalyse im vierten Kapitel, aus der die Autorin vor allem Bezüge zu einer transnational-ost(mittel)europäischen sexualisierten Unterhaltungskultur herausarbeitet.
Während die Studie in ihrer konzeptionellen Anlage aus den genannten Gründen nur bedingt überzeugt, so gelingt es der Autorin durch den Blick auf Herrschaftspraktiken, die Gleichzeitigkeit von Tradierungen und Veränderungen der patriarchalen Grundstruktur der DDR-Gesellschaft herauszuarbeiten. Die betriebliche Ebene hätte dabei aber noch gestärkt werden können, zumal Voigtländer mit ihren Ergebnissen, deren empirische Grundlage (nur) zwei Betriebe darstellen, durchaus Repräsentativität beansprucht. Dessen ungeachtet, erweisen sich viele der Einzelbefunde für eine moderne DDR- und Transformationsgeschichte als anregend und weiterführend.
Henrike Voigtländer: Sexismus im Betrieb. Geschlecht und Herrschaft in der DDR-Industrie (= Kommunismus und Gesellschaft; Bd. 13), Berlin: Ch. Links Verlag 2023, 472 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-3-96289-204-3, EUR 35,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.