Obwohl es als unstrittig anzusehen sein dürfte, dass Klassengespräche einflussreich für die Entwicklung von fachlichen und überfachlichen Kompetenzen von Lernenden im Geschichtsunterricht sind, gibt es bislang kaum spezifische und systematische Untersuchungen darüber, wie es Lehrpersonen im Geschichtsunterricht erreichen können, lernförderliche Klassengespräche zu führen und welche Kompetenzen sie dafür benötigen. Matthias Zimmermann gelingt mit seiner Forschungsstudie ein erster Schritt, diese Lücke zu füllen, indem er im Rahmen der Interventionsstudie Socrates 2.0 qualitativ empirisch die Gesprächsleitungskompetenz von drei Geschichtslehrpersonen im Verlauf einer Fortbildung zu dialogischen Gesprächsführung untersucht. Er geht der Frage nach, wie sich ihre Gesprächsleitungskompetenz im Lauf der einjährigen Fortbildung verändert und weiterentwickelt. Daneben erörtert der Autor außerdem, wie Klassengespräche im Geschichtsunterricht gestaltet und geführt werden können und arbeitet Kriterien für erfolgreiche Fortbildungen für Geschichtslehrpersonen heraus. Damit nimmt er einen relevanten Bestandteil historischer Bildungsprozesse in den Blick.
Die Monographie gliedert sich in zwölf Kapitel und umfasst den theoretischen Diskurs und die empirische Studie. Nach einer bündigen Zusammenfassung sowie zwei Vorworten nimmt Matthias Zimmermann eine umfassende Einführung in die Problematik vor. Hier erörtert er einschlägige und aktuelle Fachdiskurse.
Im theoretischen Teil widmet sich Matthias Zimmermann zunächst dem aktuellen Forschungsstand zum historischen Denken als Grundlage narrativer Kompetenz. Unter Rückgriff auf geschichtstheoretische und geschichtsdidaktische Arbeiten bezüglich des Narrativitätsparadigmas und historischen Denkens skizziert und diskutiert er dieses zentrale Bildungsziel schlüssig. Wenngleich in diesem Kapitel bereits eine stärkere Einbettung in sozial-kommunikative Beziehungsgefüge historischen Denkens wünschenswert gewesen wäre, bildet das Kapitel eine wichtige Grundlage für die nachstehenden Gedanken. Es folgt der aktuelle Forschungsstand zum Lernen im Fach Geschichte, insbesondere unter Rückgriff auf Kompetenzorientierung und die Weiterentwicklung von Konzepten. Auch diese wissenschaftlich fundierten Darstellungen überzeugen in ihrem analytischen Zugriff. Vor dem Hintergrund des Forschungsanliegens stellt sich allerdings die in der Arbeit nicht gezielt untersuchte Frage, ob Lernende über die derzeit diskutierten fachlichen Kompetenzen hinaus weitere Fähigkeiten benötigen, um miteinander in einen Dialog zu gelangen. In diesem Zusammenhang ist auch relevant, wie rational-argumentative Elemente und motivationale sowie volitionale Aspekte im geschichtsunterrichtlichen Dialog zusammenhängen, was der Autor erkennt (u.a. 69-74, 91, 94 und 171-172), aber nicht grundsätzlich ausführt. All seine Überlegungen verschränkt Zimmermann mit zentralen geschichtsdidaktischen Prinzipien, wobei er den Geschichtsunterricht als "komplementäres soziales Interaktionsgeschehen zwischen einer Lehrperson und Lernenden" (135) begreift. Dialogischen Klassengesprächen spricht der Autor die Möglichkeit zu, dass sie "alle epistemischen Funktionen eines vollständigen Lehr-Lern-Zyklus historischen Denkens" (142) erfüllen können. Durch die anschließenden Ausführungen zu professionellen Kompetenzen von Lehrpersonen formuliert Matthias Zimmermann schließlich drei Kernvoraussetzungen für erfolgreiche dialogische Klassengesprächsführung (189-190), welche die Etablierung einer dialogischen Gesprächskultur (197) und damit insbesondere die Partizipation der Lernenden (200) begünstigen. Dieser Gedankengang ist durchaus innovativ.
In allen Überlegungen wird erkennbar, welche zentrale Rolle Matthias Zimmermann Diskursen, Diskussionen und Kommunikation allgemein im Geschichtsunterricht zuschreibt (9). Etwas vage bleibt jedoch, welche Rolle nun den thematisierten Dialogen zukommt und wie sie sich im Beziehungsgefüge von Diskursen, Diskussionen sowie Kommunikation verorten lassen. Die dialogischen Klassengespräche sollen, so der Autor, dafür genutzt werden, einen "historischen Sachverhalt gemeinsam zu erarbeiten" (9) und historischen Sinn gemeinsam auszuhandeln. Offen bleibt hier, was das konkret für die Gesprächsleitungskompetenz von Lehrpersonen bedeutet und wie sie mit unter Umständen herausfordernden oder einander widersprechenden Äußerungen im Unterrichtsgespräch umgehen können. Hier erscheinen Lehrpersonen in der Praxis enorm herausgefordert und benötigen dringend fundierte fachdidaktische Reflexionen.
Nach den theoretischen Einordnungen widmet sich Matthias Zimmermann der empirischen Studie und formuliert zunächst Fragestellungen, die sich insbesondere auf eine Veränderung der Überzeugungen der Lehrpersonen und deren Kompetenz (n = 3) sowie eine Veränderung der Sprechanteile der Lernenden und die Gestaltungsmerkmale des Unterrichts beziehen. Rückschlüsse über eine erfolgreich weiterentwickelte Klassengesprächsführung der Lehrperson leitet er aus dem fachlich-argumentativen Gehalt der Schüler*innenäußerungen sowie aus Veränderungen der Überzeugungen der Lehrpersonen ab. Mittels Befragungen und Analysen von 20 videografierten Geschichtslektionen untersucht der Autor ihre Überzeugungen sowie ihre Gesprächsleitungskompetenz bezüglich diskursiver Qualitätsmerkmale. Es folgt eine aufschlussreiche Schilderung des Studiendesigns und der Fortbildung, die kriteriengeleitet und unter Verzahnung von Input, Erprobung, Feedback und Reflexion (213) entwickelt und durchgeführt wurde. Die Forschungsstudie operiert im Sinne eines Mixed-Methods Forschungsdesigns (219), indem quantifizierende Verfahren mit qualitativen Beschreibungen miteinander kombiniert werden. Dies überzeugt zwar, um der Komplexität von dialogischen Klassengesprächen Rechnung zu tragen, dennoch wäre eine umfassendere kritische Methodendiskussion wünschenswert gewesen. Die Transparenz der Interpretationen hingegen ist als besonders positiv einzuschätzen, ebenso die konsequente Rückbindung an geschichtsdidaktische Diskurse. Auch die Darstellung der Studienergebnisse geschieht detailliert und dadurch nachvollziehbar, wenngleich die Detailtiefe etwas gestrafft werden könnte. Ebenso bleibt fraglich, inwiefern bspw. die Darstellungen (vgl. etwa 312) der Verlaufsdiagramme zur besseren Verständlichkeit der Ergebnisse beitragen. Gleichwohl sind sie der Transparenz der Interpretation der Ergebnisse dienlich.
Zentrales Ergebnis von Matthias Zimmermanns Studie ist schließlich die beobachtete Veränderung der Gesprächskompetenz hin zu einer dialogischen Gesprächsleitung der drei untersuchten Lehrpersonen, die mit einer Steigerung der Sprechanteile der Lernenden einhergeht, was sich wohl positiv auf deren Kompetenzentwicklung niederschlägt. Mit nur drei untersuchten Geschichtslehrpersonen ist die Aussagekraft der Ergebnisse natürlich limitiert, was weitere Untersuchungen erforderlich macht. Innovativ erscheint der dialogische Ansatz der Klassengesprächsführung, der die Partizipation der Lernenden erhöht und ihre Verantwortung in Bildungsprozessen betont. Diesem Zugang liegt das Verständnis zugrunde, Lernende tatsächlich als handelnde und fähige Subjekte im Unterrichtsgeschehen zu begreifen, was überzeugt. Darüber hinaus legt der Autor mit seiner Studie Überlegungen für Ansätze einer dialogischen Gesprächskultur im Geschichtsunterricht vor, die er mit dem Ziel der Bildung zur Demokratiefähigkeit verbindet. In dialogischen Klassengesprächen können Schüler*innen also lernen, sich reflexiv mit eigenen epistemologischen und affektiven Überzeugungen auseinanderzusetzen, um einen respektvollen Umgang mit anderen Meinungen zu üben und präzise zu formulieren (9). Damit adressiert Matthias Zimmermann Fähigkeiten, die wohl auch künftig zentral für den Geschichtsunterricht und das gesellschaftliche Zusammenleben sein werden, besonders angesichts bedrohlicher Phänomene und Weltenlagen sowie gesellschaftlicher Herausforderungen wie fake news, cancel culture oder der propagandistischen Nutzung von Geschichte (9).
Insgesamt überzeugt die Monographie durch ihren fundierten, innovativen und schlüssigen Zugang, der grundlegende Rückschlüsse über Gesprächsleitungskompetenzen von Geschichtslehrpersonen und deren Förderung in Weiterbildungsmaßnahmen zulässt. Sie sei damit allen Personen, die in der geschichtsdidaktischen Lehrer*innenbildung tätig sind, sowie Studierenden und Lehrpersonen selbst empfohlen.
Matthias C. Zimmermann: Dialogische Klassengesprächsführung im Geschichtsunterricht. Entwicklung einer fachlichen und transversalen Kompetenz von Lehrpersonen im Rahmen der Interventionsstudie Socrates 2.0 (= Geschichtsunterricht erforschen; Bd. 15), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2023, 548 S., ISBN 978-3-7344-1507-4, EUR 72,00
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