Die "Einführung" verheißt zweierlei: zum einen ein "breites" thematisches "Spektrum" (24); dieses Versprechen löst das voluminöse Buch mit einer ganzen Reihe lesenswerter Studien ein. Zweitens wollen die Herausgeber den "Eindruck vom 'Katastrophencharakter' des Dreißigjährigen Krieges" dekonstruieren, das Bild von "der alles verheerenden Kriegsfurie" ummalen. Die Beiträge des Tagungsbandes korrigierten "die verengende Deutung des Dreißigjährigen Krieges" als "Katastrophe" (14, 9, 11). Der herkömmlichen Katastrophenrhetorik setzten sie die Vielfalt konstruktiver, oft attraktiver zeitgenössischer Handlungsmöglichkeiten sowie "die vom Krieg im Sinne einer Gewöhnung oder 'Veralltäglichung' hervorgebrachte Normalität" entgegen (14). Das deckt sich nicht mit den Lektüreeindrücken des Rezensenten. Fast alle Beiträge bezeugen, oft eindrucksvoll, wie einschneidend und leidvoll die dreißigjährige Kriegskatastrophe gewesen ist. Trotz der hohen Bellizität der Frühen Neuzeit wurde der Krieg nie als Normalzustand menschlicher Existenz empfunden, auch nicht während der langen Kriegsjahre seit 1618. Krieg war so normal wie ein schlimmes Gewitter, wie ein heftiger Sturm zur See, und dieser Bilder bedienten sich die Zeitgenossen ja auch sehr häufig.
Gewiss, Zivilisten konnten eigene Handlungsfähigkeit demonstrieren, indem sie auf die Gewalt der Soldateska mit (manchmal drastischer) Gegengewalt antworteten. Ein gründlich recherchierter Beitrag resümiert, was wir hierüber wissen. Militärhistoriker betonten ja wiederholt, dass den scheinbar irrationalen Gewaltexzessen der Soldateska durchaus ein sozialer Sinn innewohnte: Jene Überzähligen, anderswo nicht Gebrauchten, die in Söldnerheeren Zuflucht gefunden hatten, 'bewiesen' derart einer Zivilgesellschaft, die auf Söldner mit wachsender Verachtung herabsah, die Überlegenheit der eigenen Lebensform. Wohnte auch ziviler Gegengewalt eine "symbolische Funktion" inne, wollte man den Söldnern "die eigene Überlegenheit demonstrativ vorführen" (158f.)? Der Autor der Studie hält das für plausibel; über die praktischen Auswirkungen solcher Verhaltensmuster muss man nicht spekulieren: Gewalt und Gegengewalt schaukelten sich hoch. Sogar juristische Gegenwehr von Zivilisten konnte lebensgefährlich sein. Außer mit legalen Mitteln, etwa Verleumdungsklagen, pflegten die Söldnerheere auf solche Versuche mit großer "Eskalationsbereitschaft" zu reagieren: "Begann man mit Drohungen und vermeintlichen 'Unfällen', endete die Drohungsspirale bei gezielten Anschlägen" auf die Familien der Kläger oder Supplikantinnen (219).
Natürlich gab es auch Zivilisten, die ökonomisch vom Krieg profitierten, so insbesondere Lieferanten von Kriegsmaterial. Eine Fallstudie zeigt, dass einzelne Leipziger während der achtjährigen schwedischen Okkupation der Stadt auch mit anderen Waren glänzende Geschäfte machten, freilich, mindestens so evident ist dieses Aber: Als die Schwedischen endlich abzogen, war die Stadtbevölkerung aufgrund von Seuchen "um bis zu einem Drittel zurückgegangen", die innerstädtische Bausubstanz war ruinös, es hatten "die einst blühenden Vorstadtbesiedlungen nahezu aufgehört zu existieren" (239). Solches Kriegsleid lässt sich schlechterdings nicht relativieren oder dekonstruieren. Es gab, zumal im Norden des Reiches, einige größere Handelsstädte, die kaum von direkten Kriegseinwirkungen (Belagerungen, Plünderungen usw.) betroffen waren. Überwogen hier die Profite aus Kriegsmaterialhandel die Belastungen (Aufrüstung, "politische Landschaftspflege" durch Subsidien: 295)? Eine Studie über Lübeck kommt zum ernüchternden Ergebnis, dass sich selbst dort die ökonomische Lage "signifikant" verschlechtert habe (293), ebenso die des Stadtsäckels, kurz nach Kriegsende stand die Hansestadt "vor der Zahlungsunfähigkeit" (311).
Welche Handlungsmöglichkeiten hatten Kleriker? Auch danach fragen zwei Beiträge. Fraglos schrieben und redeten viele von ihnen den großen Konfessionskrieg seit 1618 herbei, "Zweifel am gottgewollten Krieg" (460) waren selten. Sollte man die geplagten Gemeindemitglieder zu Reue, Buße, einem vorbildlicheren Lebenswandel anhalten, auf dass Gottes Zorn besänftigt wurde? Oder war es "angesichts der Kriegsnöte" eher "angebracht, zu trösten anstatt zu mahnen"? "Tatsächlich scheint der Trost bei vielen Pfarrern und ihren Gemeindemitgliedern eine größere Rolle als die Buße gespielt zu haben" (504).
Wiewohl sich zahlreiche Reichsfürsten seit 1618 für "neutral" erklärten, spielt die "neutralitet" in Gesamtdarstellungen des Dreißigjährigen Krieges traditionell keine Rolle. Es ist deshalb erfreulich, dass sich eine Fallstudie der geläufigen, aber auch prekären (da von den Kriegsparteien wenig respektierten) politischen Option, die sich noch nicht zum Völkerrechtstitel verdichtet hatte, annimmt und dass sie zwei weitere Aufsätze jedenfalls streifen: Wir erfahren, dass und warum sich Johann Casimir von Sachsen-Coburg jahrelang auf seine "neutralitet" berief; weil er außerdem auf eine "friedens composition" drängte (357), wird er sogar als "Friedensfürst" gewürdigt (345). Das mag nicht verkehrt sein, freilich strichen alle Neutralen seit 1618 Friedenssehnsucht und Vermittlungsbereitschaft heraus: Gegen salbungsvolle Appelle an Gewissen und Seelenheil musste man als Neutraler im dreißigjährigen Konfessionskrieg ebenfalls moralische Gehalte aufbieten. Sodann erfahren wir beiläufig, dass "die neutrale Haltung der führenden Hansestädte" wie Lübeck von der kriegsbegleitenden Publizistik "kritisch gesehen" wurde (280 Anm. 8). Drittens lernen wir, dass auch Johann Ernst von Sachsen-Weimar die "'bewußte neutralitet fast aller Reichsstende' kritisch" sah (364), deshalb dem "Winterkönig" beisprang.
Zwei Beiträge untersuchen literarische Verarbeitungen von Kriegserfahrungen (Grimmelshausen, Gryphius). Während die "Einführung" warnt, "literarische Verarbeitungen des Krieges folgten [...] weniger [...] persönlichem Erleben, sondern in erster Linie den rhetorischen Vorgaben und Gattungskonventionen der Zeit, hinter denen eine wie auch immer geartete 'Realität' nur schwer auszumachen" sei (15), können die beiden philologischen Studien doch eindrücklich zeigen, dass solchen Dichtungen "ein Erfahrungskern real erlebter Gewalt" innewohnte (77): "Die literarisch produzierten Symbole und Bilder sind Ausdruck von Lebensrealitäten", "Codierung existentieller Wahrnehmung" (93). "Die Vernichtung familiär-bäuerlicher Lebensstrukturen" sowie "die Bedrohung der eigenen Existenz durch äußerst brutale und unkalkulierbare Gewaltformen [...] werden in drastischer Form zum Gegenstand eines stets um Fassung ringenden sprachlichen Ausdrucksvermögens" (109). Auch das war eine aktive Handlungsoption von Zeitgenossen: die Bewältigung "traumatischer Erfahrungen" (77) mit der Feder in der Hand. So gesehen, war Literatur damals "eine soziale Praktik der Verarbeitung, Bewältigung und Interpretation des Krieges" (55). Sie wollte "existentiellen Grenzerfahrungen rückwirkend Sinn und Bedeutung" verleihen (76). Weit davon entfernt, im journalistischen Sinne Kriegsberichterstattung betreiben zu wollen, künden auch solche Texte vom ungeheuren Leid, das diese Generation mental bewältigen musste.
Astrid Ackermann / Markus Meumann / Julia A. Schmidt-Funke u.a. (Hgg.): Mitten in Deutschland, mitten im Krieg. Bewältigungspraktiken und Handlungsoptionen im Dreißigjährigen Krieg (= bibliothek altes Reich (baR); Bd. 33), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2024, X + 611 S., 37 Farb-, 1 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-069132-0, EUR 89,95
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.