sehepunkte 24 (2024), Nr. 7/8

Gregor Wedekind (Hg.): Max Slevogts Netzwerke

Kaum ein Konzept dürfte für unsere Gegenwart so emblematisch sein wie dasjenige des Netzwerks. Von der Beschreibung gesellschaftlicher Strukturen in Familien, Freundeskreisen, Berufswelten und weiteren sozialen Milieus bis hin zur Informations- und Mediengesellschaft; von strategischen Ratschlägen für die gelingende Karriere ("frühzeitig Netzwerke bilden!") bis hin zu Social Media wie Facebook, Instagram - oder der Berufsplattform Xing, die die Metapher der Vernetzung bereits im Namen trägt: In unseren Lebenswelten scheinen Netzwerke und die Netzwerkbildung die grundlegende Verfasstheit und (allzu) häufig auch das Ziel unseres Denkens und Handelns zu sein. Mit dem Internet schließlich ist das Denkbild des Netzwerks zur allumfassenden Realität und zur absoluten Metapher zugleich geworden. Der wohl bedeutendste Metaphorologe des vergangenen Jahrhunderts, der 1996 verstorbene Philosoph Hans Blumenberg, wäre wohl angesichts der lebensweltlichen Ubiquität und Wirkmacht dieser Technologie erschrocken, zumal diese weit über die Prägung sozialer unter interpersonaler Strukturen hinaus bis in das Feingewebe unserer subjektiven Weltbezüge hineinreichen.

Forschungsgeschichtlich geht der Begriff des Netzwerks vor allem auf Manuel Castells 2001 veröffentlichte Studie über den Aufstieg der Netzwerkgesellschaft zurück. Darin wurde ein weites Feld vernetzter Segmente oder Bereiche von Gesellschaften gezeichnet, von globalen Finanzströmen über Nachrichtenmedien und bis hin zu Computersignalen. [1] Auch in der kunsthistorischen Forschung ist dieses Konzept auf fruchtbaren Boden gefallen. Ein 2021 von Gregor Wedekind in Verbindung mit der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz herausgegebener Sammelband richtet den Blick nun auf Max Slevogts Netzwerke - eine auf Anhieb nachvollziehbare Idee, wenn man bedenkt, dass dieser zu den hervorragend vernetzten Protagonisten der gründerzeitlichen Kunstszene zu zählen ist. Der Band setzt sich zum Ziel, Slevogts Leben und Arbeiten mithilfe eines "Beschreibungsmodell[s]" zu perspektivieren, das es erlauben soll, die "überaus komplexe künstlerische Praxis" des Künstlers in ihren "geistigen, materiellen und kommunikativen Voraussetzungen" zu begreifen. So wird ein "kognitives mapping" anvisiert, wobei der Autor umsichtig auf die Konstruiertheit jeglicher kunsthistorischer Narrative im Zeichen des Netzwerk-Konzepts hinweist: "Wir sind es, die ein Netz knüpfen, im Sinne einer Verknüpfung aller verfügbaren und auffindbaren Materialien, ob schriftlicher, visueller oder wie auch immer dinglicher Natur, die mit dem Werk Slevogts verbunden sind." (X) Wie der Untertitel des Bandes deutlich macht, geht es dabei um nicht weniger als eine Kunst-, Kultur- und Intellektuellengeschichte des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik.

Häufig wird der 1868 in Landshut geborene und 1932 in Leinsweiler-Neukastel/Pfalz verstorbene Maler, Grafiker, Illustrator und Bühnenbildner, der zunächst in München und dann in Berlin Karriere gemacht hat, in einem Atemzug mit seinen Kollegen Max Liebermann und Lovis Corinth genannt. Einem älteren, mittlerweile kritisierten kunsthistorischen Narrativ zufolge zählt er damit zum Dreigestirn deutscher Impressionisten. In jüngeren Untersuchungen wird dagegen stärker die bildkünstlerische Eigenständigkeit dieser Künstler im internationalen Vergleich hervorgehoben. Zwar haben sie in ihren Werken Anregungen der französischen Kunst und im Spezifischen des Impressionismus aufgenommen. Zugleich aber beharrten sie auf einer eigenen Bildsprache, die sich unter anderem an einer malerischen Tradition der Malerei (man denke an Rembrandt oder Frans Hals) orientierte. Der Eindruck von Unmittelbarkeit und Spontaneität, der vielen der von ihnen geschaffenen Werke zu eigen ist, wird dabei nicht primär über die fast wissenschaftliche Evokation von Lichteindrücken erzielt. Künstler wie Slevogt haben dagegen einen malerischen, sich spontan gebenden und häufig affektiv gesteigerten Pinselduktus kultiviert, der für das Temperament des Künstlers und seine mal lebenszugewandte, mal melancholisch reflektierende Weltaneignung zugleich einstehen sollte.

Wie die konzise Einführung von Wedekind verdeutlicht, ist eine wichtige Grundlage für die neuerdings angestiegenen Forschungsbemühungen um diesen Künstler der grafische Nachlass, der seit einigen Jahren der kunstinteressierten Öffentlichkeit zugänglich ist. Dieser war 2015 aus der Obhut der Familie in den Besitz der Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur übergegangen. Schon 2016 hat Wedekind die Herausgabe eines Bandes mit dem Titel Blick zurück nach vorn. Neue Forschungen zu Max Slevogt verantwortet. [2] Neben einer Reihe von Ausstellungen, die 2018 zur Feier des 150-jährigen Geburtstags ausgerichtet wurden, ist der vorliegende Sammelband ein Resultat dieser Entwicklung. Er geht auf ein wissenschaftliches Kolloquium im Max-Slevogt Forschungszentrum am 29. und 30. November 2018 zurück.

Seit der Veröffentlichung von Castells Untersuchung ist in der Wissenschaftslandschaft vieles passiert, und es dürfte vor allem der Aufstieg der Akteur-Netzwerk-Theorie in der Folge der Studien Bruno Latours sein, durch die das Konzept des Netzwerks einer tiefgreifenden Restrukturierung zugeführt wurde. Zwar wurden auch in älteren Modellen Objekte und nicht-menschliche Bereiche (etwa Institutionen oder Technologien) als Bestandteile von Netzwerken begriffen. Aber es war bekanntlich der (im ersten Moment womöglich kontraintuitive) Impetus des französischen Soziologen, diese in ihrer genuinen Handlungsfähigkeit im Verbund mit den menschlichen Akteuren in den Blick zu nehmen. Die kunsthistorische Forschung scheint gegenüber solch radikalen Denkmodellen bisher - Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel - eher zurückhaltend zu sein. Jüngere Publikationen, die den Begriff des Netzwerks im Titel tragen, bezeichnen damit häufig Personen- und damit einhergehende Machtzirkel, innerhalb derer Künstlerinnen und Künstler agierten oder Kunstwerke zirkulierten, nicht aber den Gedanken einer tiefgreifenden Verflochtenheit und Wechselwirkung zwischen Dingen, Menschen und Strukturen.

Zwar findet man auch in dem vorliegenden Band keine avancierte Methoden- oder Theoriebildung vor, mit der das Konzept des Netzwerks aus der Perspektive der Kunstgeschichte für eine visuell orientierte Kulturwissenschaft gänzlich neue Impulse ziehen könnte. Aber von Einengungen des Konzepts auf die Analyse von personalen Netzwerken setzt sich der Band dann doch in mehreren Beiträgen wohltuend ab. Mit Blick auf die zahlreichen Knotenpunkte und Verbindungslinien, die das Leben des Künstlers mit seinem näheren und weiteren Umfeld verbinden, wird dadurch dem Narrativ des aus sich selbst schöpfenden Künstlergenies ein Gegengewicht verliehen. Neben der Analyse von Skizzenbüchern des Künstlers, die zum Zeitpunkt von dessen Ankunft in Berlin 1901-1902 entstanden sind (Karoline Feulner), werden auch die Verbindungen des Künstlers zur Theaterszene beleuchtet, nämlich Slevogts Kontakte zu Otto Brahm, Gerhard Hauptmann und Max Reinhardt (Carola Schenk). Miriam-Esther Owesle rekonstruiert den Briefwechsel zwischen Slevogt und dem jüngeren Kunsthistoriker, Schriftsteller und Kunstsammler Johannes Guthmann, der von gegenseitigem Respekt und freundschaftlicher Übereinstimmung in den künstlerischen Ansichten geprägt war. Die Tatsache, dass Guthmann in einer Zeit, in der Homosexualität unter Strafe stand, mit seinem Lebensgefährten und dem Künstler unter anderem eine Reise nach Ägypten unternommen hat, wird dabei erwähnt, aber nicht weiter problematisiert. Sie hätte aber genauere Beachtung in Bezug auf Slevogts augenscheinliche Offenheit gegenüber nicht heteronormen Lebensformen verdient, zumal jüngere Beiträge der Slevogt-Forschung dessen Schaffen auch für eine an Fragen von gender und queer studies interessierte Kunstgeschichte geöffnet haben. [3]

Darüber hinaus rücken auch Bereiche in die Aufmerksamkeit, die vielleicht auf den ersten Blick peripher erscheinen, bei genauerer Prüfung aber für ein möglichst umfassendes Bild der Slevogtschen Netzwerke gewinnbringend sind. So beschäftigt sich Eva Brachert vor dem Hintergrund einer ab etwa 1850 zunehmenden Bedeutung des Malmaterials für die Künstlerinnen und Künstler mit den Farbenhändlern des Künstlers. Slevogts Schaffen und sein Œuvre möchte sie dabei als "Reflektor weltanschaulicher und maltechnologischer Diskussionen des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts" (115) verstehen. Armin Schlechter hat sich ausgiebig mit der Familienbibliothek der Slevogts beschäftigt, wodurch man einen Einblick in das intellektuell-geistige Netzwerk des Künstlers erhält.

Bei der Lektüre der Beiträge sind manche Neuentdeckungen zu machen: Wedekind befasst sich mit der bisher in der Literatur kaum beachteten Beziehung zwischen Slevogt und dem aus Prag stammenden, deutsch-jüdisch-böhmischen Maler und Grafiker Emil Orlik. Der Netzwerk-Gedanke wird darin produktiv in Form einer Rekonstruktion eines Malerstammtisches im Romanischen Café in Berlin aufgegriffen, an dem beide rege partizipierten und der sich als eine Art Drehscheibe der zeitgenössischen Künstler- und Kulturszene begreifen lässt. Eine Reihe von Aufsätzen befasst sich dagegen aus eher klassisch kunsthistorischer bzw. sammlungsgeschichtlicher Perspektive mit der Einbindung und dem Agieren des Künstlers in Sammler- und Kritikerzirkeln sowie in der Kunstpolitik. Dabei wird vor allem aus Slevogts Briefwechseln mit diversen Persönlichkeiten zitiert. Man gewinnt hierdurch neue Einblicke in seine Beziehungen zu den Sammlern Julius Freund (Nathalie Neumann), Konrad Wrede (Nicole Hartje-Grave), zum Leipziger Kunstverein (Marcus Andrew Hurttig), zum Direktor der Bremer Kunsthalle Emil Waldmann (Dorothee Hansen), zur "Pfälzer Connection" (211) um Heinrich Kohl und Franz-Josef Kohl-Weigand (Eva Wolf) sowie zur Schauspielerin Tilla Durieux, die ihre Kunstsammlung mit einer Reihe von Slevogt-Werken mit in die Emigration nach Zagreb genommen hat (Dragan Damjanovic).

Abgerundet wird der Band mit Aufsätzen, die gattungstypologisch Slevogts Stilleben einer Neubetrachtung unterziehen (Juliane Rückert) und dessen Auseinandersetzung mit Honoré Daumier - mit der Brücke von Eduard Fuchs als Vermittlerfigur - beleuchten (Mona Stocker).

Der Band wartet mit zahlreichen Abbildungen sowie 16 Farbtafeln auf, welche die häufig eher an den Textquellen orientierten Argumentationen auch visuell unterstützen. Ein Personenregister erweist sich als hilfreich, um im dichten Netzwerk der sozialen Kontakte des Künstlers nicht den Überblick zu verlieren. Ein durchgehendes Qualitätsmerkmal der Aufsätze ist die umfangreiche Auseinandersetzung mit bisher nicht oder wenig beachtetem Quellen- und Archivmaterial. In manchen Fällen hätte den Beiträgen aber ein kontextualisierender, weitere kunsthistorische Entwicklungen berücksichtigender Blick gut getan. Dies betrifft auch einen anderen Aspekt: In ihren Gegenständen erscheinen die Aufsätze doch streckenweise als zu spezifisch, um einem Lesepublikum, das sich mit Slevogt bisher noch nicht ausgiebig beschäftigt hat, ein umfassendes Bild von dessen künstlerischen Anliegen und seiner Wirkung zu vermitteln, zumal bisher kein Werkkatalog vorliegt. Das ist insofern ein wenig schade, weil der gründlich redigierte und ansprechend gestaltete Band dann doch so viele Aspekte zusammenträgt, dass ein synthetisierender Aufsatz (etwa aus der Perspektive der Rezeptionsgeschichte oder mit Blick auf Slevogts visuelle Netzwerke im Sinne der Interpikturalität seiner Werke) die einzelnen Puzzleteile hätte sinnstiftend verbinden können. Aber als exemplarisches Panorama der vielen institutionellen, personen- und materialbezogenen Geflechte, in die das Leben und Schaffen eines Künstlers wie Slevogt eingebunden war und aus denen heraus er in die Gesellschaft des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik wirkte, ist der Band ein anregendes Lektüreerlebnis. Man wünscht ihm, ein Publikum zu finden, das weiter reicht als in die engen Kreise der Slevogt-Forschung.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Manuel Castells: Das Informationszeitalter. Teil 1, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, übersetzt von Reinhard Kößler, Opladen 2001.

[2] Vgl. Gregor Wedekind (Hg.): Blick zurück nach vorn: Neue Forschungen zu Max Slevogt (Phoenix. Mainzer kunstwissenschaftliche Bibliothek, Band 2), Berlin / Bosten 2016.

[3] Vgl. Thomas Röske: Ein Doppelporträt von Max Slevogt, in: Blick zurück nach vorn: Neue Forschungen zu Max Slevogt (Phoenix. Mainzer kunstwissenschaftliche Bibliothek, Band 2), hg. von Gregor Wedekind, Berlin / Bosten 2016, 61-79.

Rezension über:

Gregor Wedekind (Hg.): Max Slevogts Netzwerke. Kunst-, Kultur- und Intellektuellengeschichte des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik (= Phoenix. Mainzer Kunstwissenschaftliche Bibliothek; Bd. 6), Berlin: De Gruyter 2021, XIV + 335 S., 182 Abb., ISBN 978-3-11-066095-1, EUR 49,95

Rezension von:
Dominik Brabant
Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München
Empfohlene Zitierweise:
Dominik Brabant: Rezension von: Gregor Wedekind (Hg.): Max Slevogts Netzwerke. Kunst-, Kultur- und Intellektuellengeschichte des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Berlin: De Gruyter 2021, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 7/8 [15.07.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/07/36335.html


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