sehepunkte 24 (2024), Nr. 10

Klaus Richter: Fragmentation in East Central Europe

Mit seiner auf Englisch erschienenen Monografie hat der an der University of Birmingham wirkende deutsche Osteuropahistoriker Klaus Richter eine zentrale Studie zu den territorialen Veränderungen in Ostmitteleuropa in der Zwischenkriegszeit vorgelegt. Im Mittelpunkt stehen die Auswirkungen des 1. Weltkriegs, die Neuordnungspläne für die Region bereits zu Kriegszeiten, sowie deren Diskussion und Umsetzung durch verschiedene nationale und internationale Akteure nach Kriegsende. Richter begreift seine Studie daher auch als einen Beitrag zur international history.

Die Fragmentierung dieser von ihm untersuchten Region nach Kriegsende, die die Staaten Polen, Litauen, Lettland und Estland umfasst, welche vormals überwiegend zum Russländischen Kaiserreich gehörten, zeigt Richter unter anderen anhand historischer Karten, aber auch Bildquellen, zum Beispiel des Modells einer Zollkarte von Clive Morrisson-Bell. Das Modell dokumentiert die Zollgrenzen im Jahre 1926 und veranschaulicht, wie die neuen Grenzen diesen vormals fast einheitlichen Wirtschaftsraum durchschnitten. Unter fragmentation versteht Richter "a gradual process of breaking and reconfiguring networks of economic, political, social, and cultural exchange" (3). Er legt Wert drauf, eine historische Studie vorzulegen, die nicht nur die territoriale Aufspaltung und die wirtschaftliche Zerstörung in den Blick nimmt, sondern darüber hinaus auch gesellschaftliche Transformationsprozesse untersucht und die Einflüsse struktureller und historischer Hinterlassenschaften hinterfragt.

Wie Richter argumentiert, setzte der Prozess der Fragmentierung der Region schon während des 1. Weltkriegs ein, als deutsche Truppen weite Teile Polens, sowie Litauen und Kurland (also Südlettland) besetzten, weshalb seine Studie 1915 beginnt. Neben fragmentation ist der zweite, nicht im Titel genannte, aber die Monografie durchziehende Begriff des empowerment (7). Richter untersucht, wie die neu bzw. erneut sich formierenden Nationalstaaten und ihre nationalen Eliten nun selbst die Geschicke ihres Landes und ihrer Wirtschaft in die Hand nahmen.

Die Monografie und ihre sechs Kapitel (zuzüglich Einleitung und Schluss) sind thematisch aufgebaut. Richter nähert sich seinem Hauptthema fragmentation über verschiedene Teilthemen an: von den intellektuellen Debatten zur territorialen Neuaufteilung während des 1. Weltkriegs (Kapitel 2), über Staatsbürgerschaft, Repatriierung und Flüchtlinge (Kapitel 3), hin zu Grenzziehungen und territorialen Neueinteilungen (Kapitel 4) und der wirtschaftlichen Befähigung der (neuen) Nationalstaaten und der Kontrolle über Ressourcen (Kapitel 5). Außerdem diskutiert Richter die wichtige Frage nach der Neugestaltung der Infrastruktur und des Seezugangs (Kapitel 6) sowie der Landreform und Umverteilung von Eigentum (Kapitel 7).

Der Autor denkt nicht vom Nationalstaat her, sondern er fokussiert in den Kapiteln ausgewählte regionale Beispiele. Das kann z.B. eine Kleinstadt sein, wie in Kapitel 4 die lettisch-estnische Stadt Valka/Valga, durch die in Folge der territorialen Neueinteilung nach dem 1. Weltkrieg plötzlich die Grenze zwischen Lettland und Estland verlief, die mehrere Straßenverbindungen sowie die ursprünglich durchgehende Eisenbahnverbindung blockierte und die wirtschaftliche Erholung in der Region empfindlich störte.

Hervorzuheben ist, dass Richter durch die Einbeziehung ganz unterschiedlicher Quellen, wie zum Beispiel Petitionen, Behördenberichte und Zeitungen, zeigen kann, dass die lokale Bevölkerung die Grenzziehungen entlang von Woodrow Wilsons Prinzips der "nationalen Selbstbestimmung" nicht zwangsläufig befürwortete, sondern dass für sie Überlegungen wie die Nähe zum nächsten Markt, der Kirche oder dem Arzt oft wichtiger waren. So beklagten die Bewohner der nun polnischen Stadt Potrzebowo, dass sie durch die neue Grenzziehung von ihrem bisherigen wirtschaftlichen Zentrum in der nahe gelegenen (deutschen) Stadt Schlawa abgeschnitten waren. Für die Einwohner der lettischen Stadt Subate an der lettisch-litauischen Grenze, die mit der Grenzziehung ihren Markt und ihr (litauisches) Hinterland für den Flachsvertrieb verloren, sah die Situation ähnlich aus. Mit seiner Vorgehensweise kann Richter Gemeinsamkeiten in der Region aufzeigen und demonstrieren, dass die Bevölkerungen in Polen, Litauen, Lettland und Estland mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten. Gleichzeitig gelingt es ihm, den geografischen Blickwickel mit jedem Kapitel neu zu justieren und die für das jeweilige Thema interessantesten Fallstudien aus der Region zu analysieren.

Besonders gelungene Beispiele dafür sind in Kapitel 6 die Fallstudien zur Freien Stadt Danzig, dem neu errichteten polnischen Hafen Gdynia und der Hafenstadt Memel/Klaipėda. Richter analysiert die Ausgangslage der beiden ehemals deutschen Hafenstädte Danzig und Memel und zeigt auf, welche Schwierigkeiten sich diesen Häfen durch das Abschneiden ihres Hinterlandes boten. Durch die Annexion von Memel durch Litauen 1923 gewann die Hafenstadt zwar ein neues, litauisches Hinterland. Doch die nun litauische Hafenstadt mit dem neuen Namen Klaipėda hatte - wie Richter dokumentiert - keinerlei Eisenbahnanbindungen an litauische Städte, so dass litauische Bauern und Händler ihre Agrarprodukte weiterhin über das lettische Liepāja ausführen mussten, wobei an der litauisch-lettischen Grenze nun Zölle fällig wurden. Hingegen führte der Bau des komplett neuen polnischen Hafens Gdynia innerhalb des polnischen Korridors und dessen kommerzieller Erfolg zu Lasten der Freien Stadt Danzig, wie Richter zeigt, zu internationalen Verstimmungen (sowie zu einer Verschlechterung der deutsch-polnischen Beziehungen); andererseits war der Hafen ein Paradebeispiel gelungener polnischer Wirtschaftspolitik. Gdynia verfügte über eine hochmoderne Hafenanlage sowie eine direkte Eisenbahnanbindung ins schlesische Kohlerevier und war von den polnischen Politikern explizit als "Poland's gateway to the world" (224) erschaffen worden.

Nicht immer war es den Nationalstaaten jedoch möglich, wie beim Prestigeprojekt Gdynia innerhalb kürzester Zeit großangelegte neue Straßen- und Eisenbahnverbindungen zu erschaffen, um eine Neuausrichtung der Wirtschaftsräume zu realisieren. Das Problem des Durchtrennens gewachsener Handelswege - seien es Straßen, Eisenbahnverbindungen oder Wasserwege - belegt Richter anhand mehrerer Beispiele und zeigt damit ganz grundsätzliche wirtschaftliche Probleme der neu bzw. wieder entstandenen Nationalstaaten auf. Somit ist es ihm mit dieser Monografie gelungen, eine auch für Wirtschaftshistoriker:innen hoch relevante Studie zu schreiben.

Die Monografie ist internationale Geschichte, Wirtschaftsgeschichte und Geschichte des Raumes Ostmitteleuropa zugleich. Dadurch, dass Richter nicht die Nationalstaatenbrille Polens, Litauens, Lettlands oder Estlands aufsetzt, erweitert sich sein Blick auf Probleme, die von den Nationalgeschichten der jeweiligen Staaten bisher kaum untersucht wurden. Durch die umfangreiche Auswertung von Primärquellen, teils internationaler Organisatoren, teils staatlicher Akteure, aber auch von Vertretern lokaler Institutionen, kann er die unterschiedlichen nationalen Gruppen, inklusive der in der Region besonders in der Zwischenkriegszeit weit verbreiteten nationalen Minderheiten, in seiner Darstellung berücksichtigen. Die Lektüre der Monografie ist uneingeschränkt empfehlenswert und ist - auch kapitelweise - für Lehrveranstaltungen ebenfalls geeignet.

Rezension über:

Klaus Richter: Fragmentation in East Central Europe. Poland and the Baltics, 1915-1929, Oxford: Oxford University Press 2020, vi + 355 S., ISBN 978-0-19-884355-9, GBP 70,00

Rezension von:
Katja Wezel
Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Georg-August Universität, Göttingen
Empfohlene Zitierweise:
Katja Wezel: Rezension von: Klaus Richter: Fragmentation in East Central Europe. Poland and the Baltics, 1915-1929, Oxford: Oxford University Press 2020, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 10 [15.10.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/10/38193.html


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