In "Die Kirche der Anderen" untersucht Maria Neumann das Verhältnis von Religion und Gesellschaft in Berlin-Brandenburg in der Zeit von 1945 bis 1990. Dazu legt sie den Fokus auf grenzübergreifende Verflechtungen sowie die damit eng verbundenen Entfremdungsprozesse christlicher Religionsgemeinschaften unter den Bedingungen des Kalten Krieges. Dabei wagt sie einen konfessionsübergreifenden Blickwinkel, um größere gesellschaftliche Entwicklungen erfassen zu können. Neumann ergänzt mit den christlichen Religionsgemeinschaften einen Aspekt der Verflechtung der ost- und westdeutschen Gesellschaft. Die Studie leistet einen Beitrag zur Erforschung der deutsch-deutschen Verflechtungsgeschichte sowie zur Religions- und Kirchengeschichte.
Zunächst schildert Neumann die unmittelbare Nachkriegszeit. Sie betont die Kontinuitäten, die trotz aller Kriegs- und Nachkriegswirren auch über das Jahr 1945 hinaus für die Berliner Kirchen von entscheidender Bedeutung waren. Die Nachwirkungen der Zeit des Nationalsozialismus seien deutlich spürbar gewesen. Beispielsweise sei man auf protestantischer Seite nach dem Ende der heftigen innerkirchlichen Auseinandersetzungen besonders um Einheit bemüht gewesen. Oftmals hätten die Kirchenleitungen zu den Verhältnissen aus der Zeit vor 1933 zurückkehren wollen, ohne die dringend erforderlichen Reformen zu berücksichtigen, die insbesondere von der Jugend gefordert wurden.
Im zweiten Kapitel befasst sich Neumann mit den grenzübergreifenden Verflechtungen christlicher Religionsgemeinschaften in den 1950er und 1960er Jahren, die bereits in dieser Zeit zu bröckeln begannen. Zudem setzt sie sich mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus und mit dem Antikommunismus auseinander. Die These, dass es sich bei der Erzählung von Verfolgung und Widerstand lediglich um ein Meisternarrativ gehandelt habe, die die Kirchen aus der Zeit des Nationalsozialismus unter veränderten Vorzeichen auf die Situation in der DDR übertrugen, lässt die tatsächliche Repression der Kirchen durch die SED besonders in der Zeit des Stalinismus in den Hintergrund rücken. Stattdessen betont Neumann: "Der Antikommunismus diente also dazu, den Faschismus zu relativieren und (ehemalige) Nationalsozialisten mit (überzeugten) Antifaschisten kirchenintern zu versöhnen" (188). Damit knüpft sie an Kleßmanns Aussage an, der Antikommunismus habe der politischen und gesellschaftlichen Integration gedient. [1] Ob ihre davon ausgehende Zuspitzung gerechtfertigt ist, bleibt fraglich. Möglicherweise war die Integrationsfunktion des Antikommunismus eher ein von den Kirchenleitungen willkommener Nebeneffekt als eine beabsichtigte Integrationsmaßnahme.
Auf die Entfremdungsprozesse und die daran anknüpfenden Entflechtungen geht Neumann im dritten und vierten Teil ihrer Arbeit ein. So seien bereits vor dem Mauerbau Entfremdungs- und Entflechtungstendenzen zu beobachten gewesen, die einerseits auf administrative Anpassungen zurückzuführen seien. Andererseits seien aber auch die sich sukzessive auseinanderentwickelnden Lebensrealitäten und Selbstverständnisse auf den beiden Seiten der innerdeutschen Grenze von Bedeutung. Während die Gemeinden im Westen besonders nach 1968 deutlich politisiert gewesen seien, hätten sich die Gemeinden in der DDR aufgrund des staatlichen Drucks zunehmend zurückgezogen.
Zu erneuten Verflechtungstendenzen kam es bereits in den 1960er Jahren, vor allem aber in den 1970er und 1980er Jahren, denen sich Neumann im fünften Kapitel widmet. Diese neuen Verbindungen seien vornehmlich durch jüngere Kirchenmitglieder aus dem Interesse am Fremden heraus entstanden und weniger auf der Grundlage gemeinsamer Bezugspunkte.
Im sechsten Kapitel geht Neumann dann auf die Herausforderungen ein, die für die christlichen Religionsgemeinschaften nach Jahren der Trennung und entsprechender Entfremdung durch die deutsche Wiedervereinigung entstanden. Die Kirchen hätten auf den politischen Wandel mit administrativen Anpassungen reagiert. Gleichzeitig wirkten die Mentalitätsunterschiede zwischen Gemeindemitgliedern aus Ost und West bis heute nach.
Die Autorin stellt heraus, dass die Teilung der christlichen Religionsgemeinschaften nicht ausnahmslos entlang der innerdeutschen Grenze erfolgt sei. Vielmehr verliefen die Trennlinien innerhalb der Religionsgemeinschaften oft entlang politischer Ausrichtungen, der Unterscheidung von Klerikern und Laien und den Konflikten zwischen städtischen und ländlichen Gemeinden.
Vier Dynamiken der Verflechtung macht Neumann mit Blick auf ihren Untersuchungsgegenstand aus. Erstens habe die Suche der Kirchen nach einer grenzübergreifenden Identität ständige Bemühungen erfordert, da die identitätsstiftenden Narrative durch Widersprüche aufgebrochen worden seien. Zweitens prägten Auseinandersetzungen zwischen Jung und Alt das Geschehen innerhalb der Gemeinden, was an sich keine Besonderheit sei, jedoch die Erzählung von Beständigkeit untergraben habe. Drittens seien die Ansichten innerhalb der Gemeinden keinesfalls homogen gewesen. Auch zwischen den Gemeindemitgliedern und den Kirchenleitungen habe es mitunter deutlich divergierende Ansichten gegeben, was zu Loyalitätskonflikten geführt habe. Viertens habe sich das Narrativ der Wiedervereinigung unterschieden: Während viele Gemeindemitglieder die zum Teil bis heute andauernden Schwierigkeiten, Herausforderungen und Mentalitätsunterschiede betonen würden, hätten die Kirchenleitungen die Zusammenführung nach 1989/90 stets als Erfolg dargestellt.
Eine Herausforderung der Arbeit liegt in ihrem konfessionsübergreifenden Ansatz. Insgesamt liegt der Fokus oftmals auf den evangelischen Gemeinden, was die quantitative Situation in Berlin-Brandenburg zwischen 1945 und 1990 widerspiegelt. Fraglich ist jedoch, inwiefern die gewonnenen Erkenntnisse Rückschlüsse auf andere Konfessionen erlauben, da beispielsweise die katholische Kirche grundlegend anders strukturiert war als die evangelische Kirche und häufig nach anderen Mustern funktionierte. Diese zum Teil erheblichen Unterschiede verschwimmen gelegentlich.
Die durchgeführten Zeitzeugeninterviews, die sicherlich einen erheblichen Arbeitsaufwand erforderten, hätten noch stärker in die Argumentation eingebunden werden können, ohne jedoch dem Versuch zu erliegen, allgemeine Entwicklungen oder verbreitete Ansichten von den Erinnerungen exemplarisch ausgewählter Menschen ableiten zu wollen. Vielmehr können Zeitzeugengespräche wohl Einblicke in die individuellen Erinnerungen der Interviewten sowie deren Erzählungen des Vergangenen bieten, wobei die damit verbundenen Chancen und Probleme zu reflektieren sind.
Eine Stärke der Arbeit liegt in ihrer systematisch-chronologischen Gliederung, die es ermöglicht, Prozesse differenziert nachzuvollziehen, die teils zeitgleich abliefen oder sich sogar widersprachen. So wird deutlich, dass grenzüberschreitende Verflechtungen und Entflechtungen christlicher Religionsgemeinschaften nicht ausschließlich auf staatliche Politik zurückzuführen sind, sondern auch auf die damit einhergehenden gesellschaftlichen Entfremdungsprozesse.
Durch den speziellen Blickwinkel gelingt es Neumann, bereits Bekanntes in neuem Licht erscheinen zu lassen und Erkenntnisse über die wechselhafte Geschichte der grenzüberschreitenden Verflechtungen christlicher Religionsgemeinschaften zu vertiefen.
Anmerkung:
[1] Christoph Kleßmann: Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955-1970, Göttingen 1988, 13.
Maria Neumann: Die Kirche der Anderen. Christliche Religionsgemeinschaften und Kalter Krieg im geteilten Berlin-Brandenburg, 1945-1990, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023, X + 511 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-102566-7, EUR 89,95
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