sehepunkte 25 (2025), Nr. 1

Cécile Lanéry-Ouvrard: Hagiographies

Mit dem 2024 erschienenen neunten Band der Histoire internationale de la littérature hagiographique, latine et vernaculaire, so der Langtitel der Hagiographies, ist der Abschluss des Gesamtunternehmens, begonnen 1994, in greifbare Nähe gerückt. In diesem Referenzwerk stehen nicht die Heiligen oder ihr Kult im Zentrum des Interesses, sondern die Hagiographen selbst und ihre Werke. Konzipiert wurde das Ganze als Vorarbeit für eine (in absehbarer Zukunft) zu schreibende Darstellung über hagiographische Quellen in der Reihe der Typologie des sources du Moyen Âge occidental. Band IX ist die Fortsetzung des bereits 2010 erschienen fünften Bandes, in dem die in Italien zwischen 300-550 entstandenen Passionen und Viten Behandlung fanden, und des 2017 veröffentlichten siebten Bandes, in dem die in Umbrien verfassten hagiographischen Schriften und das Werk Gregors des Großen vorgestellt wurden.

Gegenstand des vorliegenden Bandes sind die rund 30, in Rom, seinen Nachbardiözesen und in Süditalien verfassten bzw. übersetzten hagiographischen Texte, bei denen es sich zumeist um anonyme Passionen in Prosa handelt. Entstanden sind sie in den knapp zwei Jahrhunderten zwischen der Errichtung der Präfektur Italien durch Justinian (554) und dem Fall des Exarchats von Ravenna (751). Zwar warten die behandelten Dossiers nicht mit einer Überfülle an tagesaktuellen Informationen auf, zeugen insgesamt aber von den Verwerfungen einer "époque contrastée, faite de ruptures soudaines et d'érosions plus lentes". (17)

Um den geographischen und chronologischen Unterschieden am besten gerecht zu werden, wurde der Band nach geografischen Zonen gegliedert. Der erste und umfangreichste Teil ist Rom und seinen angrenzenden Diözesen gewidmet, deren hagiographische Texte in etwa die gleichen Merkmale aufweisen wie die in der Ewigen Stadt selbst entstandenen hagiographischen opera. Für den Mezzogiorno, der einen zweiten Teil bildet, ist die Entscheidung zu begrüßen, Süditalien, Sizilien und Sardinien als getrennte Einheiten zu behandeln, nahm die hagiographische Produktion in diesen drei Regionen doch völlig unterschiedliche Verläufe. Am Beginn jedes Kapitels - I. Rome et ses environs: A. Les Passions latines, B. Les traductions du grec; II. Le Mezzogiorno: A. L'Italie méridionale, B. La Sicile, C. La Sardaigne - steht eine eigene Einführung, gefolgt von einem kritischen Verzeichnis der betreffenden Texte.

Mit Cécile Lanéry-Ouvrard, tätig am Pariser Institut de Recherche et d'Histoire des Textes, nimmt sich eine ausgewiesene Spezialistin für spätantike und frühmittelalterliche Hagiographie des italienischen Raums dieser hagiographischen Dossiers an. In ihrer Einführung (14-41) verweist sie die pauschalierende Annahme, dass die in den Jahren 550-750, den sogenannten "dunklen Zeiten", entstandenen Texte mittelmäßig, einfallslos und bar jeder sprachlichen Verfeinerung seien, ins Reich der Legende. Sicher: die stilistischen Höhen eines Hieronymus, Ambrosius oder Paulinus von Nola werden nur von den wenigsten Texten erreicht, falsch wäre es aber, dem gesamten überlieferten Corpus jedwede Qualität abzusprechen. Dass die politische Großwetterlage in Umbruchszeiten der hagiographischen Produktion nicht eben förderlich war, steht außer Frage. Und doch ist es interessant zu sehen, was dies im Einzelfall konkret bedeutete.

Die Einleitungen zu den einzelnen geographischen Einheiten zeigen, dass sich die politisch-wirtschaftlich-kulturelle Situation in Italien zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert zeitlich und räumlich sehr unterschiedlich präsentierte. Das gilt ebenso für die hagiographische Produktion: Die Entwicklungen in Rom und im Mezzogiorno verliefen weder quantitativ noch qualitativ ähnlich. In Rom verfassten die Hagiographen auch im 7. Jahrhundert noch Passionen nach dem Vorbild derjenigen der beiden Vorgängerjahrhunderte. Diese konservative, qualitativ erhebliche Unterschiede aufweisende Textproduktion verschwand erst zu Beginn des 8. Jahrhunderts. In den römischen Passionen des 6. Jahrhunderts tauchen etwa Hinweise auf kirchliche Institutionen und einen hierarchisch gegliederten Ortsklerus häufiger auf. Ein Jahrhundert später, mit dem Zuzug griechischsprachiger Mönche, die vor den persischen bzw. arabischen Invasionen in Konstantinopel geflohen waren, entstanden im "byzantinischen Rom" einige Übersetzungen hagiographischer Texte aus dem Griechischen ins Lateinische - die Passionen von Anastasius, Bonifatius und Tryphon oder die Mirakel des Cyrus sind einige Beispiele unter vielen (360-550).

In Rom verflüchtigte sich die antike Welt langsamer als im Mezzogiorno, wo man bereits im 6. Jahrhundert von Umwälzungen betroffen war, die in administrativer, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht keinen Stein auf dem anderen ließen und die das religiöse Leben (mit seiner Literaturproduktion) unmittelbar betrafen. Die urbanen, aus der Antike stammenden Strukturen lösten sich auf, kirchliche Karrieren und mönchische Existenzen, die bisher Garanten einer bescheidenen hagiographischen Produktion gewesen waren, gerieten ins Hintertreffen. Anders ausgedrückt: In Apulien, Lukanien und Kampanien, durch die langobardische Eroberung zerstückelt und verwüstet, kam die Entstehung neuer hagiographischer Texte im 7. Jahrhundert abrupt zum Erliegen, da die kirchlichen Strukturen, die den Fortbestand der Hagiographie bisher gesichert hatten, zerstört worden waren. Die einfachen, für afrikanische und orientalische Einflüsse offenen Texte, die die Hagiographie des Mezzogiorno in der Spätantike gekennzeichnet hatten, sollten so bis in die 750er Jahre hinein keine Fortsetzung finden.

In Sizilien präsentierte sich die Situation noch einmal anders: Die lateinischen, romanophilen und von einem hohen kulturellen Bildungs- und Verfeinerungsgrad gekennzeichneten Passionen wurden im Laufe des 7. Jahrhunderts vom Griechischen abgelöst. Auf der Insel - im 6. Jahrhundert Privatbesitz der byzantinischen Kaiser - entging man zwar, anders als im Mezzogiorno, den lombardischen Invasionen, die Produktion hagiographischer Texte präsentiert sich quantitativ jedoch auf bescheidenem Niveau (783-813).

Die hagiographische Produktion Sardiniens zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert, für die beispielhaft die Passionen des Saturninus von Cagliari und des Luxorius stehen, ist bisher nur in ihren Grundzügen erforscht. Ohne Zweifel wird die von Lanéry-Ouvrard verfasste wissenschaftliche mise à jour hier zu weitergehenden Forschungen anregen (814-851).

Im Anhang finden sich neben einer alphabetisch gegliederten Auflistung (Table récapitulative) der behandelten hagiographischen Dossiers einige Karten, in denen die im Zusammenhang mit den analysierten Texten maßgeblichen Orte innerhalb und außerhalb Roms, in Latium, Süditalien und Sardinien verzeichnet sind. Eine ausführliche Bibliographie (883-955) beschließt eine Publikation, deren Qualität derjenigen der Vorgängerbände in nichts nachsteht. Forschungen zur mittelalterlichen Hagiographie sind ohne Rückgriff auf die Hagiographies nicht mehr denkbar - was nicht das Schlechteste ist, was sich über ein wissenschaftliches Grundlagenwerk sagen lässt.

Rezension über:

Cécile Lanéry-Ouvrard: Hagiographies. Histoire internationale de la littérature hagiographique latine et vernaculaire en Occident des origines à 1550 (= Corpus Christianorum. Hagiographies; IX), Turnhout: Brepols 2024, 962 S., 1 Farb-, 52 s/w-Abb., ISBN 978-2-503-60028-4, EUR 385,00

Rezension von:
Ralf Lützelschwab
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Lützelschwab: Rezension von: Cécile Lanéry-Ouvrard: Hagiographies. Histoire internationale de la littérature hagiographique latine et vernaculaire en Occident des origines à 1550, Turnhout: Brepols 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 1 [15.01.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/01/39087.html


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