sehepunkte 25 (2025), Nr. 4

Patricia Kleßen: Adelige Selbstbehauptung und romantische Selbstentwürfe

Herzog August galt lange als Homosexueller bzw. homoerotischer Exzentriker auf dem Thron von Sachsen-Gotha-Altenburg. [1] Die Literaturwissenschaftlerin und Historikerin Patricia Kleßen hinterfragt nun dieses Bild in ihrer Jenaer Dissertation, in der sie die These einer queeren und romantischen Selbstinszenierung aufstellt und durch eine historische Kontextualisierung zu substantiieren sucht. So seien etwa die Antikenrezeption des Herzogs und seine Teilnahme am Freundschaftskult des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts nicht zwangsläufig als ein Indiz für eine homosexuelle Veranlagung zu verstehen (11). Als Ziel gibt Kleßen an, diejenigen Inszenierungen des Herzogs zu untersuchen, "die in bestimmten Kontexten lieber verschwiegen, in anderen überinterpretiert, in vielerlei Hinsicht vereinfacht und in ihrem ambivalenten Charakter bislang gar nicht adäquat berücksichtigt wurden" (12). Um diesem Vorhaben gerecht zu werden, wählt die Autorin einen multiarchivalischen Ansatz, der Staatsakten, private Korrespondenzen, Tagebücher von Augusts Zeitgenossen, Leichenpredigten und die Inventarliste seines Nachlasses heranzieht (12-16). Auf dieser Grundlage soll Augusts Selbstinszenierung in die Ergebnisse der Adelsforschung, der literaturwissenschaftlichen Forschung zur Romantik und den Queer und Gender-Studies eingeordnet werden. Das geschieht in vier Schritten.

Nach der hier skizzierten Einleitung behandelt das zweite Kapitel das höfische Leben in Gotha. Augusts "Spiel mit Geschlechterrollen" habe den höfischen Gepflogenheiten seiner Zeit entsprochen und sei eine Strategie der adeligen Statussicherung im Zeitalter der Französischen Revolution gewesen (34-35).

Das dritte Kapitel interpretiert Augusts "Lebensstil als romantisches Gesamtkunstwerk" (85). Ähnlich wie die Romantiker habe August sein Leben poetisiert und seine "Originalität, Fantasie und Expertise" in Szene gesetzt (326). In diesem Zusammenhang verortet Kleßen auch die von ihr August zugesprochene Queerness, die einerseits im Adel um 1800 der Norm entsprochen, andererseits neue Konzepte von Geschlechtlichkeit konterkariert habe (328-329). Die Inszenierung seiner Androgynie sei aus dem Bemühen entsprungen, sich als romantischer Künstler darzustellen (335).

Das vierte Kapitel widmet sich der materiellen Selbstdarstellung, indem es den Zusammenhang von Konsum und romantischer Inszenierung des Herzogs untersucht (209). Augusts Konsumverhalten sei zeittypisch und Ausdruck seiner adeligen Identität gewesen (210). Die Bestandteile seiner Sammlung habe er nicht mehr als reine Gebrauchsgegenstände, sondern als Kunstobjekte in Szene gesetzt. Besonders weiblich konnotierte Sammlungselemente hätten vor dem Hintergrund des für die Romantik charakteristischen Spiels mit Geschlechtsrollen zur künstlerischen Aura Augusts beigetragen (338).

In den Sammlungen Herzog Augusts sticht das Interesse am Fernen und Nahen Osten besonders hervor. Kleßen geht deshalb im fünften Kapitel auf Basis von Augusts Orientsammlung von der Grundthese aus, dass der Herzog ein "Self-Othering" betrieben habe, indem er sich als Europäer mit dem Orient identifiziert habe (279).

Die vier vorherigen Kapitel ermangeln eigener Zwischenergebnisse. Diese sind vielmehr zu einem längeren Gesamtfazit am Ende des Buches gruppiert. Darin geht es der Autorin dezidiert darum, Herzog August "Gerechtigkeit widerfahren zu lassen" (321). Sie kommt zu dem Schluss, dass die historische Kontextualisierung von Augusts Selbstinszenierung dazu beigetragen habe, den Herzog in mancher Hinsicht nicht mehr als Sonderling erscheinen zu lassen (340). Dem "Unbehagen des Subjekts um 1800 mit geschlechtlich markierten Denkfiguren" (329) sei August mit der Abgrenzung von bürgerlichen und adeligen Geschlechtsentwürfen (328), einer geschlechtlichen Ambiguität (330), Androgynie (332) und einer gewissen Originalität (336) begegnet.

Ob die postmoderne Kategorie der "Queerness" geeignet ist, die Vielzahl dieser Geschlechtsentwürfe zu bündeln, bleibt aufgrund ihres anachronistischen Charakters weiter diskussionswürdig. Ihre Überspitzung führt teilweise zu schiefen Interpretationen, wenn etwa die Rede davon ist, Augusts Bewunderung für Napoleon als letzten großen Helden sei im Rahmen einer "zeittypischen Kritik an Männlichkeit zu verorten" (331). Vielmehr müsste in diesem konkreten Beispiel das Gegenteil der Fall sein, denn der französische Kaiser präsentierte als Heros zugleich traditionelle und moderne Bilder von Männlichkeit. Und August erkannte durch seine Napoleonverehrung diese Männlichkeitsentwürfe mindestens implizit an, statt sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen. Traditionelle Formen von Maskulinität verdienten als Vergleichsfolie stärkere analytische Beachtung. Der einseitige Blickwinkel auf "Queerness" und das konsequente Gendersternchen für fast alle Akteure sprechen dafür, dass hier stärker gegenwartspolitische Bedürfnisse im Vordergrund stehen als ein genuines historisches Erkenntnisinteresse.

Der multiarchivalische Ansatz und die intensive Einbeziehung der Ergebnisse bestehender Studien zur Romantik sorgen dafür, dass es Patricia Kleßen trotzdem gelingt, die bislang vorherrschende anachronistische Sichtweise auf Herzog August als homosexuellen Nonkonformisten zu historisieren. Dadurch erscheint der Exzentriker auf dem Thron Sachsen-Gotha-Altenburgs weniger außergewöhnlich, als dies in bisherigen Untersuchungen zu seiner Person der Fall war. Die Beantwortung der Frage, ob ähnliche geschlechtliche Selbstinszenierungen im Zeitalter der Romantik auch in anderen Teilen des deutschen Hochadels Schule machten, bleibt künftigen Untersuchungen vorbehalten.


Anmerkung:

[1] Vgl. bspw. Anna Bers: Ein Jahr in Arkadien - August von Sachsen-Gotha-Altenburg (1772-1822) und die Homoerotik deutscher Schäferdichtung in: Norman Domeier / Christian Mühling (Hgg.): Homosexualität am Hof. Praktiken und Diskurse vom Mittelalter bis heute, Frankfurt / New York 2020, 325-344; Paul Derks: Die Schande der heiligen Päderastie. Homosexualität und Öffentlichkeit in der deutschen Literatur 1750-1850, Berlin 1990, 410-431.

Rezension über:

Patricia Kleßen: Adelige Selbstbehauptung und romantische Selbstentwürfe. Die >queeren< Inszenierungen Herzog Augusts von Sachsen-Gotha-Altenburg (1772-1822) (= Geschichte und Geschlechter; Bd. 78), Frankfurt/M.: Campus 2022, 387 S., ISBN 978-3-593-51582-3, EUR 45,00

Rezension von:
Christian Mühling
Braunschweig
Empfohlene Zitierweise:
Christian Mühling: Rezension von: Patricia Kleßen: Adelige Selbstbehauptung und romantische Selbstentwürfe. Die >queeren< Inszenierungen Herzog Augusts von Sachsen-Gotha-Altenburg (1772-1822), Frankfurt/M.: Campus 2022, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 4 [15.04.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/04/37215.html


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