Die Studie der drei Ethnologen Sandra Kreisslová, Jana Nosková und Michal Pavlásek untersucht das Familiengedächtnis von Angehörigen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Dafür wurden 120 Interviews mit über 100 Interviewpartnern aus 35 Familien geführt, deren Biografien in unterschiedlichem Maße von Migration geprägt sind. Bei diesen Gruppen handelt es sich um die deutsche Minderheit in Tschechien, deutsche Vertriebene aus der Tschechoslowakei und die tschechische Minderheit in Kroatien. Eine vierte Untersuchungsgruppe stellen die tschechischen Remigranten aus Kroatien dar, ehemalige Partisanen und deren Angehörige, die den bewaffneten Widerstand in Jugoslawien während des Zweiten Weltkriegs unterstützt hatten und denen daher nach 1945 die Umsiedlung in die Tschechoslowakei ermöglicht wurde. Die Interviews sind jedoch nicht allein auf die Erlebnisgeneration begrenzt: Durch Hinzuziehung der Narrative von Kindern (zweite Generation) und Enkeln (dritte Generation) sollen das Familiengedächtnis und seine generationsübergreifende Transmission untersucht werden, - die Verfasser wollen nicht nur die Inhalte der Familiengedächtnisse, das "Was", aufzeigen, sondern auch Mechanismen und Strategien der Übermittlung, also das "Wie".
Die in vier Hauptteile gegliederte Arbeit beginnt mit der theoretisch-methodischen Kontextualisierung, bei der die wichtigsten verwendeten Begriffe eingeführt und definiert werden. Neben Termini wie "Familie", "Gedächtnis", "Narrativ", "Generation" und "Migration" wird auch die Methode der Oral History erläutert sowie über die gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Diskurse der Begriffe reflektiert. An dieser Stelle soll nur auf die für die Fragestellung maßgeblichen Begriffe "Familiengedächtnis" und "Migration" eingegangen werden. Demnach wird das Familiengedächtnis verstanden als "Prozess der alltäglichen Kommunikation, bei dem die Familienmitglieder gemeinsam darüber verhandeln, was ihre Vergangenheit ist" (407). Insbesondere die Konstruktion dieses Gedächtnisses und der Identität der Interviewpartner anhand der Migrationserfahrungen der Vorfahren ist für die Verfasser von Interesse. Migration bezeichnet dabei nicht nur "die Bewegung von Menschen mit dem Ziel, den Aufenthaltsort zu verändern" (42), sondern wird darüber hinaus als gesellschaftlicher Prozess gesehen, "der Veränderungen mit sich bringt" (44). Dementsprechend werden die Narrative derjenigen beiden Minderheitengruppen untersucht, die zwar nicht selbst migriert sind, deren soziale Realitäten sich aber durch Remigration bzw. Aussiedlung gleichfalls dauerhaft veränderten.
Im zweiten Hauptteil, der sich der Durchführung der Interviews widmet, setzen sich die Ethnologen mit Problemen der Feldforschung und Datenerhebung auseinander. Unter der Überschrift "Problem der Generationen" wird unter anderem die große Spanne der Geburtsjahre insbesondere der Kinder und Enkel reflektiert, die nur schwer als jeweils eigene Generation zusammengefasst werden können. Ein zweites Problemfeld bildet die Methode, die bezüglich des Erzählverhaltens des Interviewten sowie der Rolle der Interviewer und anwesender Dritter kritisch geprüft wird. Für die Suche nach Interviewpartnern stehen unterschiedliche Methoden zur Verfügung, deren Vor- und Nachteile dargestellt werden. Neben dem Schneeballsystem, bei dem man über einen Interviewpartner an Kontakte gelangt, gibt es auch die Möglichkeit, mit Gatekeepern zu arbeiten, worauf die Verfasser bei der Gruppe der tschechischen Minderheit in Kroatien und der vertriebenen Deutschen aus der Tschechoslowakei zurückgriffen. Andere Schwierigkeiten ergaben sich bei spontanen Begegnungen im Zuge der Feldforschung sowie bezüglich der Diskrepanz zum Beispiel hinsichtlich Ethnizität und Sprache zwischen Interviewer und Interviewtem.
Auf das kulturelle Gedächtnis wird im dritten Hauptteil fokussiert, wo die in den Familien erzählten und weitergegebenen Narrative untersucht werden. Dafür wird der historische Hintergrund skizziert sowie auf die Erinnerungspolitik der jeweiligen Gruppeneliten oder des Staates eingegangen, denn die Familienerinnerung könne immer auch "die auf höheren Ebenen verbreitete Repräsentation widerspiegeln" (16). Daher beschäftigen sich die Verfasser nicht nur mit Minderheitenverbänden, deren Entstehung und Bedeutung, sondern auch mit der rechtlichen Stellung der einzelnen Minderheitengruppen und den Erinnerungsdiskursen in den jeweiligen Ländern. Dabei betonen die Verfasser den Zweiten Weltkrieg als die prägendste Erfahrung in den Narrativen der Erlebnisgeneration: Während die Gruppen der tschechischen Minderheit in Kroatien und der tschechischen Remigranten beide ihre Beteiligung an dem Partisanenaufstand hervorheben, ist für die beiden deutschen Gruppen die Zwangsmigrationserfahrung am Ende des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit entscheidend. Dieser Teil der Studie dient somit als inhaltliche Grundlage für den vierten Hauptteil, der anhand der Interviews von je einer Familie pro Gruppe das kommunikative Gedächtnis und die generationsübergreifende Transmission beleuchtet.
Abschließend ordnen die Ethnologen die Fallstudien "in den sozialen, historischen und diskursiven Kontext ein und verknüpfen sie mit den Erkenntnissen, die aus der wissenschaftlichen Untersuchung hervorgehen" (18). Es lässt sich erkennen, dass gewisse Narrative der tschechischen Minderheit in Kroatien und der tschechischen Remigranten - die Phase vor und im Zweiten Weltkrieg - ähnlich verlaufen sind. Erst mit der Remigration unterscheiden sich die Narrative: Während die Remigranten die Migrationserfahrung und die Integration in der Tschechoslowakei, aber auch den Wandel hin zu einer Stigmatisierung betonen, wird die Remigration in den Erinnerungen der in Kroatien Verbliebenen von der wirtschaftlich motivierten Arbeitsmigration späterer Jahre überschattet. Den Rahmen und Bezugspunkt ihrer Erzählungen bildet der Kroatienkrieg. Bei den beiden deutschen Gruppen können die Erzählungen in drei Phasen geteilt werden: vor 1938; zwischen 1938 und Kriegsende; Vertreibung. Nach der durch die Zwangsmigration ausgelösten Teilung der Gemeinschaft der böhmischen Deutschen lassen sich weiterhin ähnliche Motive in den Narrativen erkennen, wie z. B. Phasen der Liminalität und der Erneuerung durch Integration bzw. Assimilation.
Von allen vier Gruppen wird das Narrativ von Fleiß und Arbeitseifer betont, was auf die erlebte Fremdheit in der Mehrheitsgesellschaft zurückzuführen ist. Dieses Narrativ findet sich jedoch nicht nur in der Erlebnisgeneration, sondern wird auch von der zweiten und dritten Generation reproduziert. Hierin zeigt sich, dass vom Familiengedächtnis Werte, Moralvorstellungen und Identität übernommen werden. Die Verfasser stellen aber gleichzeitig auch fest, dass das Familiengedächtnis ein Feld ist, "auf dem persönliche Identitäten und die Identitäten von [...] Gruppen ausgehandelt werden" (419).
Den Verfassern ist es gelungen, allgemeine Ergebnisse etwa zur Konstitution des Familiengedächtnisses oder zum kulturellen Gedächtnis gruppenspezifisch bzw. gruppenübergreifend zu präsentieren, ohne dabei den durch die lebensgeschichtlichen Interviews geschaffenen individuellen Charakter aus den Augen zu verlieren. Als besonders gelungen erscheint die Auswahl der untersuchten Gruppen, die die europäische Dimension der Nachkriegsmigration verdeutlicht: So wurden die tschechischen Remigranten in den Häusern der ausgesiedelten deutschen Bevölkerung untergebracht, was wiederum einen Teil der tschechischen Minderheit in Kroatien von einer Remigration abschreckte, da sie das neue Leben nicht in einer Umgebung beginnen wollten, die von anderen geschaffen worden war. Selten wird die Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung zusammengedacht mit gleichzeitig stattfindenden Migrationsbewegungen in die Länder Ostmitteleuropas. Gerade deshalb ist die Studie als eine Bereicherung für die Forschung anzusehen. In einer Zeit, in der, wie die Verfasser selbst schreiben, "die Erlebnisgeneration verschwindet und [...] das spezifische Generationsgedächtnis langsam erlischt" (21), haben sie außerdem mit ihrer Arbeit dazu beigetragen, einen Teil dieses Gedächtnisses zu bewahren und für andere Forscher zugänglich zu machen.
Sandra Kreisslová / Jana Noskov'a / Michal Pavlásek: "Ganz normale Familiengeschichten". Bilder von Migration und migrierende Bilder im Familiengedächtnis (= Schriftenreihe des Instituts für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa; Bd. 26), Münster: Waxmann 2023, 459 S., ISBN 978-3-8309-4682-3, EUR 49,90
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