Johanna Geyer-Kordesch: Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preußen im 18. Jahrhundert. Das Leben und Werk Georg Ernst Stahls (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung; 13), Tübingen: Niemeyer 2000, VIII + 283 S., ISBN 978-3-484-81013-6, EUR 68,00
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Die moderne Medizin wird häufig als seelenlos, als eine rein mechanische und reduktionistische Wissenschaft kritisiert. Die Weichen hierfür wurden durch die Wolff'sche Psychologie und Albrecht von Hallers Reizlehre im frühen 18. Jahrhundert gestellt, glaubt Johanna Geyer-Kordesch. Die einzig vollwertige, auch naturwissenschaftlich fundierte Alternative dazu wäre die ganzheitliche Lehre Georg Ernst Stahls (1659-1734) gewesen. In der nun vorliegenden Arbeit, die auf ihre Habilitationsschrift von 1987 zurückgeht, rekonstruiert und expliziert Geyer-Kordesch Stahls medizinische Theorie und dessen Organismusbegriff. Der Chemiker Stahl und seine wirkmächtige Phlogistontheorie werden dagegen nicht thematisiert.
Bereits der Titel "Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preußen im 18. Jahrhundert" macht deutlich, dass "Das Leben und Werk Georg Ernst Stahls" (Untertitel) in einen größeren Zusammenhang gestellt werden sollen. Diese Kontextualisierung ist, um es vorwegzunehmen, das größte Verdienst dieser Arbeit, zeigt sie doch, wie eng verknüpft Medizin-, Geistes- und Gesellschaftsgeschichte sind (beziehungsweise wie überholt deren disziplinäre Trennung ist). So werden die Netzwerke der (radikalen) Pietisten und Stahl-Schüler ebenso rekonstruiert wie deren zum Teil eng verwandte und aufeinander bezogene Gedankenwelten.
Im Zentrum stehen Stahls Jahre in Halle (1684-1715). Für die Autorin repräsentiert Stahls Lehre "die Erneuerung des Wissens im Sinne der Enthusiasten" (79). Sein Hauptwerk "Theoria Medica Vera" (1708) sei "ein wichtiger Bestandteil der Reform innerhalb des Hallenser Pietismus" (200). Die enge Verwandtschaft zwischen Stahl'scher Medizin und der pietistischen Erweckungsbewegung lässt sich an analogen Annahmen ablesen: einer allen verständlichen und zugänglichen Wahrheit, der Individualität des Kranken und seines Leidens beziehungsweise der individuellen religiösen Erfahrung des Gläubigen sowie der Vorstellung vom Willen als wichtigem Vermögen der Seele.
Bekanntlich weist der Pietismus um 1700 ein breites Spektrum an Positionen auf. Während die Pietisten in Halle den Konsens mit der weltlichen Obrigkeit suchen (müssen), sind radikale Pietisten wie Johann Conrad Dippel der Verfolgung ausgesetzt. Diesen Kontext der "Verfolgung der Wahrheit" macht die Autorin auch für Stahl und seine Lehre geltend. Zwar finden sich im Umfeld Stahls einige radikale Pietisten, doch scheint die Stahl'sche Rede von der verfolgten Wahrheit eher einer rhetorischen Strategie als einer tatsächlich bestehenden Bedrohung geschuldet. Stahl war schließlich ein überaus erfolgreicher und anerkannter Mediziner, wurde 1715 zum Leibarzt des preußischen Königs berufen und in Berlin Oberaufseher des Collegium Medicum. In diesem Punkt geht die ansonsten gelungene Parallelisierung religiöser und medizinischer Theoreme nicht auf.
Dass Stahls Rede von der verfolgten Wahrheit affirmiert, nicht aber hinterfragt wird, verweist auf ein Grundproblem des Buches: Die Autorin geht zu wenig auf Distanz zu ihrem Gegenstand, ihre Sympathie für Stahl und seinen ganzheitlichen Ansatz ist auf jeder Seite spürbar. Stahls Rede davon, dass die Wahrheit einfach sei - und damit auch einfach zu vermitteln -, seine Kritik einer mit leerem Wortgepränge hantierenden Medizin, sein refrainartiger Verweis auf die empirische Basis seiner medizinischen Theorie, sein Insistieren auf der Vereinbarkeit von Religion und Wissenschaft - all dies nimmt Geyer-Kordesch für bare Münze. Dass es sich hierbei um Topoi handelt, die zu jener Zeit alles andere als ungewöhnlich sind und zur Abgrenzung gegenüber konkurrierenden Ansätzen dienen, die vermeintlich unverständlich und lediglich auf Worten, nicht aber auf Empirie basieren, wird nicht problematisiert.
Das Bemühen um die Rekonstruktion der medizinischen Lehre Stahls schlägt somit um in den Versuch, Stahl zu rehabilitieren beziehungsweise seine Modernität nachzuweisen. Das wirkt ahistorisch und irritiert ebenso wie eingestreute, wertende Kommentare wie "Stahl hat recht". Trotz der Heroisierung Stahls vermeidet es die Autorin aber, gegen die rationalistische Aufklärungsmedizin zu polemisieren oder diese über einen Kamm zu scheren. Dazu kennt sie die Problemgeschichte doch zu gut. So widmet sie sich ausführlich der Kontroverse Stahl-Leibniz, die von Stahl in dem umfangreichen "Negotium Otiosum" (1720) auch dokumentiert wurde und das für die Autorin "als der erste Auftakt für den von pietistischer Seite so heftig geführten Kampf gegen Christian Wolff gewertet werden" (201) kann.
Was ist nun das vermeintlich Moderne an der Medizin Stahls? Er lehnt das an Descartes anschließende dualistische Verständnis des Menschen, die Zweiteilung in einen aktiven Geist und einen passiven beziehungsweise maschinenartigen Körper ab. Konkret heißt das etwa, dass sich Stahl gegen das mechanische Modell vom Blutkreislauf als einer Pumpe wendet, nicht aber gegen die Idee des Blutkreislaufes selbst. Für Stahl ist der Körper selbstorganisierend und "intelligent", das heißt mit Erkenntnisfunktion ausgestattet. "Leben auf jeder Wahrnehmungsstufe beinhaltet Intelligenz" (164). Die Wolff'sche Hierarchisierung von Verstand und Sinnlichkeit und die Abwertung der Affekte als Verdunkelung des Verstandes werden zurückgewiesen. Stahl besteht auf den Wechselbeziehungen zwischen Geist und Körper, die Autorin beschreibt dies als Einsicht in die Dynamik des Lebendigen. Medizinisches Wissen erschöpft sich nicht in Physiologie oder Anatomie, sondern ist multidimensional.
Damit einher geht ein Krankheitsverständnis, das nicht von einer fremden, störenden Substanz ausgeht, sondern davon, dass die körpereigene Dynamik in "Unordnung" geraten ist. Dafür können etwa Affekte wie Wut oder Trauer verantwortlich sein. Stahl macht dabei geltend, dass in einem mechanischen Modell Gefühlsregungen nicht als Wirkursachen vorkommen können. In diesem ganzheitlichen, interaktiven und anti-reduktionistischen Verständnis wird dem Begriff des Mechanismus jener des Organismus entgegengesetzt, wobei mit Organismus ein Werkzeug der Seele gemeint ist.
Geyer-Kordesch versucht in diesem Kontext, Stahls Lehre vom Vitalismus, wonach eine spezifische Lebenskraft den Organismus antreibt, abzugrenzen, der der Geruch der Unwissenschaftlichkeit anhängt. Meines Erachtens gelingt ihr dies nur bedingt. Stahls metaphysische Grundannahme eines "motus tonicus vitalis", einer Art "seelischen Bewegung", erinnert doch noch an den Vitalismus.
Während Stahls medizinische Theorie eingehend und mit dem Hang zur Wiederholung beschrieben wird, erfährt man kaum etwas über seine medizinische Praxis und therapeutischen Maßnahmen, die dem Ganzen im wahrsten Sinne des Wortes Fleisch gegeben hätten. Ob dies aus Platzgründen oder wegen Quellenmangels ausgespart wird, bleibt unklar. Die Frage, ob die "Mechanisten" anders therapieren als Stahl und seine Schüler, hätte für die Differenzierung der beiden Richtungen wie für die Theorie-Praxis-Problematik in der Medizingeschichte möglicherweise wichtige Erkenntnisse liefern können. So bleiben aber auch die Patienten und deren Perspektive beziehungsweise Erleben ausgeblendet, der Ansatz der Arbeit bleibt somit theorie- und arztzentriert.
Zum Abschluss wird die Wirkungsgeschichte Stahls bis zur Jahrhundertmitte und darüber hinaus verfolgt, die außer der Medizin etwa auch die Literatur, genauer die Affektlehre von Empfindsamkeit und Sturm und Drang, beeinflusst hat.
Geyer-Kordesch versteht es, die Relevanz der Medizingeschichte gerade auch für Aufklärungshistoriker und Pietismusforscher aufzuzeigen. Stahls medizinische Lehre wird umfassend und im Kontext der weltanschaulichen und theologischen Auseinandersetzungen der Zeit dargestellt. Der Wert der Arbeit wird dadurch etwas geschmälert, dass sich die Autorin zu sehr mit ihrem Gegenstand identifiziert und es mitunter an kritischer Distanz mangeln lässt. Die Konzentration auf die theoretischen Grundlagen der Stahl'schen Medizin führt zu einer weitgehenden Aussparung der medizinischen Praxis.
Oliver Hochadel