Stig Förster (Hg.): An der Schwelle zum Totalen Krieg. Die militärische Debatte über den Krieg der Zukunft 1919-1939 (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 13), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2002, 495 S., ISBN 978-3-506-74482-1, EUR 40,00
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Stig Förster (Hg.): Vor dem Sprung ins Dunkle. Die militärische Debatte über den Krieg der Zukunft 1880-1914, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016
In dem vom Berner Historiker Stig Förster herausgegebenen Sammelband werden die fachmilitärischen Debatten ausgesuchter Länder anhand einer bisher nicht ausgewerteten Quellengruppe, den Militärzeitschriften, rekonstruiert. Seine Beiträge füllen Desiderata der Ideengeschichte von Strategie und Taktik, Doktrinen und Militärpolitik. Sie ergänzen eine autorenzentrierte Beschäftigung mit diesem Thema, da sie die zeitgenössischen Kontexte vieler Originaltexte (Ludendorffs Buch "Der Totale Krieg") rekonstruieren.
In den zeitgenössischen Debatten dominierte die Frage, ob der nächste Krieg ein totaler sein werde. In der Einleitung entwickelt der Herausgeber deswegen den Begriff des Totalen Kriegs, der in den nach Ländern geordneten Beiträge zur Analyse genutzt wird. Förster definiert den Totalen Krieg idealtypisch über das Kriterium der Entgrenzung, was heißt, dass die bisher als verbindlich angesehenen Grenzen in unterschiedlichen Dimensionen (Kriegsziele, Kriegsmethoden, Mobilisierung der Bevölkerung, Kontrolle der Gesellschaft) nicht mehr beachtet wurden, etwa in der Forderung nach bedingungsloser Kapitulation des Gegners.
Diese Kategorien dienen den Autoren zur Rekonstruktion des Bildes vom nächsten Krieg, das in den untersuchten Zeitschriften ventiliert wurde. Ein solches methodisches Vorgehen leuchtet ein, zumal das Untersuchungsmaterial noch in seinen jeweiligen Kontext gestellt wird (Folgen des Ersten Weltkriegs, Sicherheitspolitik, soziale und ökonomische Stellung der Offiziere in der Zwischenkriegszeit). Somit werden auch die nationalstaatlichen Rahmenbedingungen beschrieben, die den Beiträgen ihre Spezifik gegeben haben. Allen Analysen werden kurze Porträts der Zeitschriften, ihrer Autoren und Leser vorangestellt. Zu kritisieren bleibt indes, dass die Auswahl der Länder (27) wohl erwähnt, aber nicht ausreichend begründet wird. Es ist nachvollziehbar, dass mit Italien, Großbritannien, Deutschland, Frankreich und den USA die Hauptmächte des Ersten Weltkriegs vertreten sind. Ob jedoch die Auswahl der Schweiz und Belgiens als Beispiele für die Gruppe der "kleinen Mächte" systematischen Kriterien folgt, bleibt leider unklar, während das Fehlen Österreichs beziehungsweise Ungarns nicht erläutert wird.
Die Debatten in Frankreich (Beitrag von Daniel Marc Segesser) und zu Großbritannien (Beitrag von Timo Baumann) weisen einige Gemeinsamkeiten auf: In den französischen Zeitschriften sei eine defensive Doktrin entwickelt worden, welche zwar die technischen Neuerungen (also Panzer, Flugzeuge und Gaswaffen) und die Notwendigkeit der Organisation der Kriegsgesellschaft reflektiert, aber nicht die notwendigen strategischen Konsequenzen gezogen habe. Die Verfasser hätten den nächsten Krieg als einen lang dauernden Stellungskrieg antizipiert und den Vorteil auf der Seite des Verteidigers gesehen. Damit hätten die öffentlichen Debatten ungefähr die französische Militärdoktrin abgebildet, welche zu der Niederlage von 1940 beigetragen habe.
Ähnlich sei die Rezeption in Großbritannien verlaufen. Die technischen Neuerungen seien hauptsächlich auf taktischem Niveau hinsichtlich ihres Einsatzes im Gefecht reflektiert worden. Für den Landkrieg sei den Autoren gerade der Einsatz von Panzern attraktiv erschienen, da diese als Garant für einen schnellen Bewegungskrieg gegolten und damit die Einführung der Wehrpflicht in einem nächsten Krieg überflüssig gemacht hätten. Damit blieb Baumann zufolge das Nachdenken über Vor- und Nachteile der Panzerwaffe im Rahmen der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. Von besonderem Interesse für das Vereinigte Königreich als Inselmacht sei der Einsatz der Luftwaffe in einem strategischen Bombenkrieg gewesen, gerade um totalitäre Diktaturen mit einem Erstschlag niederzuringen und einen Totalen Krieg auf beiden Seiten zu verhindern. An dem Beispiel der britischen Luftkriegsdoktrin zeigt sich, dass zeitgenössische Konzeptionen des Totalen Kriegs durchaus nicht alle Elemente der oben angeführten Definition erfüllten: Der Bereitschaft, einen Bombenangriff gegen die Bevölkerung des Gegners zu führen, hätte die Zurückhaltung gegenüber gestanden, die eigene Bevölkerung zu mobilisieren.
In den USA (Beitrag von Bernd Greiner) sei das Problem des Totalen Kriegs lange wegen der günstigen geopolitischen Lage und der relativen Unwichtigkeit des Militärs im öffentlichen Leben nicht wahrgenommen worden. Erst in den 30er-Jahren hätten die Militärs eine zunehmende Bereitschaft gezeigt, den nächsten Krieg auch gegen die Zivilbevölkerung zu führen, wenngleich die publizierten Beitrage dies nur angedeutet hätten.
Auch in den italienischen Zeitschriften (Beitrag von Giulia Grogini Künzi) wurde über eine offensive Doktrin für den nächsten Krieg nachgedacht, da im Hintergrund die Enttäuschung über die geringen territorialen Gewinne im Ersten Weltkrieg stand. Ein Großteil der für Italien untersuchten Beiträge sei in die Zeit des Faschismus gefallen und habe damit der Zensur unterlegen, sodass das Militärbudget im Unterschied zu Großbritannien und Frankreich kaum Thema gewesen sei. Ausführlich sei die Luftkriegstheorie Douhets besprochen worden, der mit einem schnellen und harten Luftschlag gegen die Zivilbevölkerung des Gegners den nächsten Krieg auch unter Einschluss von chemischen Waffen habe gewinnen wollen. Die offensiven Überlegungen seien durch ein beachtliches Bemühen ergänzt worden, Maßnahmen des militärischen und zivilen Luftschutzes zu antizipieren, für deren Verwirklichung eine umfangreiche Militarisierung der Gesellschaft vorgesehen gewesen sei. In Italien sei allerdings die Bedeutung der Panzerwaffe und der Motorisierung des Heers unterschätzt worden.
Diesem Problem setzten sich die Debatten in Deutschland (dem Beitrag von Markus Pöhlmann zufolge) nicht aus. Eine revisionistische Strategie habe den Rahmen gebildet. Innerhalb dessen hätten die deutschen Militärs versucht, die fehlende Praxis mit der ihnen durch den Versailler Vertrag verbotenen Panzerwaffe durch theoretische Beschäftigung zu kompensieren. Dies war nach Einschätzung Pöhlmanns erfolgreich, weil die Zeitschriften dieses Fachwissen verbreitet hätten. Dabei habe erst im nationalsozialistischen Deutschland der Totale Krieg eine größere Anhängerschaft gefunden; vorher hätten die meisten Militärs für einen kurzen, von Berufsmilitärs geführten Bewegungskrieg optiert.
Diese Analysen der Hauptbeteiligten des Ersten Weltkriegs werden abgerundet durch Beiträge zu Belgien (Beitrag von Segesser) und der Schweiz (Beitrag von Pöhlmann und Künzi). Gerade Belgien habe gefürchtet, im nächsten Krieg wieder Opfer einer fremden Besatzungsherrschaft zu sein. Allerdings hätten sich die belgischen Offiziere außerstande gesehen, eine Defensivdoktrin zu entwickeln, um der Führung eines Totalen Kriegs zu begegnen. Mit einem ähnlichen Fatalismus seien die Diskussionen in der Schweiz geführt worden: Die Diskutanten seien zwar auf dem Stand der internationalen Debatte gewesen, ein probates Mittel zur Landesverteidigung sei ihnen jedoch nicht in den Sinn gekommen. Beide Beiträge zeigen, dass sehr wohl die geopolitischen und volkswirtschaftlichen Grundlagen in den Debatten reflektiert wurden. Hier konnten die kleineren Staaten nur ins Hintertreffen geraten: Die britischen Autoren hätten auf Rohstofflieferungen aus dem Empire hoffen können; die deutschen und italienischen Militärs hätten die Überzeugung geäußert, dass ihre jeweilige Nation sich wirtschaftlich autarke Machtbereiche aneignen könnten.
Alle Beiträge rekonstruieren die nationalen Debatten gründlich und umfassend, sodass wenige Fragen zu ihrem Inhalt offen bleiben. Zum Interpretationsgerüst ist allerdings anzumerken, ob die Verwendung von zwei Idealtypen statt eines Idealtyps nicht die Analysetiefe erhöht hätte: Neben dem Konzept des Totalen Kriegs gab es - wie Baumann für Großbritannien nachweist (182) - in ganz Europa Überlegungen zu einem "Blitzkrieg", also einem schnellen Bewegungskrieg unter Einschluss aller drei Teilstreitkräfte, der eine innenpolitische Totalisierung des Kriegs unnötig machen sollte. Wären alle untersuchten Debatten mit beiden Idealtypen analysiert worden, hätten sich die Ambivalenzen - etwa der Position Douhets - besser herausarbeiten lassen. Zudem wäre es interessant gewesen, die Debatten nicht nur als Ausfluss der sich wandelnden Rahmenbedingungen und als Indikatoren für die Mentalität der Militärs zu sehen, sondern (wie im Beitrag zu Deutschland) systematisch ihre Wirkungen auf den tatsächlich geführten Zweiten Weltkrieg zu diskutieren. Doch diese abschließende Kritik soll lediglich aufzeigen, wo andere Forscher mit eigenen Arbeiten ansetzen können. Hierfür bilden die neun materialreichen Beiträge mit ihrer gründlichen Bearbeitung des jeweiligen Themas ein sehr gutes Fundament.
Jörn Brinkhus