Christoph Motsch: Grenzgesellschaft und frühmoderner Staat. Die Starostei Draheim zwischen Hinterpommern, der Neumark und Großpolen (1575-1805) (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; Bd. 164), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, X + 486 S., 12 Abb., 14 Tabellen, 7 Karten, ISBN 978-3-525-35634-0, EUR 52,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Die mikrohistorische Fallstudie behandelt Politik und Gesellschaft in der Starostei Draheim, die 1657 als (wiedereinlösbarer) Pfandbesitz von der Krone Polen an den brandenburgischen Kurfürsten abgetreten wurde und bis zur Ersten Teilung Polens (1772) in dieser intermediären Stellung verblieb. Die Darstellung schließt eine Forschungslücke, da die bisherigen Arbeiten zur pommerschen, neumärkischen oder großpolnischen Geschichte die spezifischen Gegebenheiten in der Grenzregion nicht zutreffend oder nur oberflächlich berücksichtigten.
Die aus den Quellen gearbeitete Darstellung stützt sich auf umfangreiche Bestände im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA), die dort unter pommerschen, neumärkischen und polnischen Betreffen verzeichnet sind, zu einem erheblichen Teil jedoch die Starostei Draheim berühren. Weiterhin wurden die regionalen Provenienzen zur pommerschen Geschichte im Landesarchiv Greifswald und im Staatsarchiv Stettin sowie das erzbischöfliche Archiv und das Staatsarchiv in Posen benutzt. Aus der Sicht des Rezensenten hätte weiterhin - insbesondere für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts - im GStA der Bestand Generaldirektorium Westpreußen und Netzedistrikt sowie im Staatsarchiv Bromberg (Bydgoszcz) der Bestand Kriegs- und Domänenkammerdeputation Bromberg herangezogen werden können.
Christoph Motsch wählt eine konsequent regionale Perspektive, rückt die Peripherie in den Vordergrund und bemüht sich, "eine kleinräumige Rekonstruktion eines lokalen Herrschaftsaustrages" zu leisten (9). Zeitlich liegt der Schwerpunkt auf der Periode zwischen 1657 und 1772, zur Veranschaulichung der Siedlungsstrukturen wird ins 16. Jahrhundert zurückgegriffen. Abschließend wird punktuell auf die Folgen der Statusänderung nach 1772 und der Grenzverschiebung eingegangen.
Die Untersuchung ist in vier Teile gegliedert: Zunächst werden die Voraussetzungen der kurfürstlichen Herrschaftsübernahme und die strukturellen regionalen Gegebenheiten abgehandelt. Kapitel 2 zeichnet die Auseinandersetzungen zwischen neuer Obrigkeit und Untertanen nach: Die Starostei wies durch die Besiedlung erst im 16. Jahrhundert, vor allem aus der Neumark und Pommern, eine eigene soziale Gliederung auf, die Motsch typologisch als "Grenzgesellschaft" fasst: Zum Zwecke der Grenzsicherung dominierte eine relativ breite Schulzen- und Freibauernschicht, die durch polnische Privilegien abgesichert war. Nach der Herrschaftsübernahme durch einen brandenburgischen Amtsmann gelang es zunächst nicht, diese in Pommern oder der Neumark kaum anzutreffenden Strukturen zu verändern, da die Untertanen nach Polen appellierten und Berlin außenpolitische Verwicklungen fürchtete. Die zentrale Ebene griff deshalb zu Kompromisslösungen, was treffend als "ausgehandelte Herrschaft" und "Pluralität von Rechtsbefugnissen und Obrigkeiten" (448) charakterisiert wird. Im dritten Teil werden die Konfessionen und die Konflikte um die vertraglich garantierten Privilegien des katholischen Geistlichen gegenüber der überwiegend lutherischen Bevölkerung skizziert. Der Pfarrer in Tempelburg stand als geistliche Obrigkeit zwischen dem Posener Bischof und der brandenburg-preußischen Verwaltung und fungierte zugleich als Mittelsmann nach Polen. Das 4. Kapitel behandelt schließlich die Rolle der Grenze (in Anlehnung an theoretische Postulate von Hans Medick), ein komplexes Thema, da in der Region die Grenzen durchweg umstritten waren und die Grenzgesellschaft mehrfache Loyalitäten entwickelte (unter den adligen Eliten zum Beispiel die Familien Manteuffel und von der Goltz) beziehungsweise sich der Herrschaft durch Grenzübertritt, Flucht oder Mehrfachprivilegierung entzog.
Im Rahmen dieser Gliederung gelingt dem Verfasser eine dichte Darstellung der politischen und sozialen Strukturen in der Region, die immer wieder an die Berliner Perspektive rückgebunden wird. Dagegen werden die brandenburgisch-preußisch-polnischen Beziehungen, die wiederholt auf die Situation in Draheim zurückwirkten, nicht immer ausreichend berücksichtigt: So ist das brandenburgische Nachgeben in Draheim in den 1670er und 1680er-Jahren auch auf die gespannten Beziehungen zu Polen und die Pläne einer offensiven Westpolitik unter Jan Sobieski zurückzuführen, was der Autor nicht thematisiert (175 f.). Hier hätte die Arbeit von Anna Kamińska-Linderska, Między Polską a Brandenburgią. Sprawa lenna lęborsko-bytowskiego w drugiej połowie XVII w. [1] berücksichtigt werden müssen. Umgekehrt erklärt sich die härtere brandenburgisch-preußische Linie im 18. Jahrhundert aus der mächtepolitischen Schwächung Polens.
Dies soll jedoch die Bedeutung der Arbeit nicht einschränken: Insgesamt relativiert die - theoretisch durchdacht und sprachlich überzeugend angelegte - Mikrostudie die scheinbare Geschlossenheit des absolutistischen Zugriffs und die Reichweite zentralstaatlicher Vorgaben selbst im Preußen des 18. Jahrhunderts. Die Untersuchung wirft die Frage auf, ob die Konzeption der Grenzgesellschaft nicht auch auf andere Regionen der preußisch-polnischen Grenze (zum Beispiel Lauenburg und Bütow, aber auch Oberschlesien sowie auf polnischer Seite das Königliche Preußen und Teile Großpolens) übertragen werden kann. Wenn die Grenze bis ins 18. Jahrhundert "in erster Linie feudalherrschaftlich und lokal" (449) war, so erklärt dieses Faktum vielleicht mit das Phänomen der über Jahrhunderte stabilen Grenze. Für zukünftige mikrohistorische Studien in diesem Bereich kann die Arbeit als überzeugendes Vorbild dienen.
Anmerkung:
[1] Zwischen Polen und Brandenburg. Die Frage des Lauenburg-Bütowschen Lebens in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts., Wrocław 1966
Hans-Jürgen Bömelburg