Heidi Hein: Der Piłsudski-Kult und seine Bedeutung für den polnischen Staat 1926-1939 (= Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung; Bd. 9), Marburg: Herder-Institut 2002, 512 S., 31 Abb., ISBN 978-3-87969-289-7, EUR 43,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
In der neueren Nationalismusforschung hat sich der Befund durchgesetzt, dass Nationen keine natürlichen, unveränderbaren Entitäten sind, sondern über gesellschaftliche und politische Kommunikations- und Vorstellungsprozesse hergestellt werden. Die Verfasserin der vorliegenden Studie hat sich vorgenommen, anhand der Untersuchung des Kultes um den polnischen Staatsmann Józef Piłsudski die Prozesse der Staats- und Nationsbildung in der Zweiten Polnischen Republik darzustellen. Dabei geht sie von der These aus, "daß der Piłsudski-Kult über die Verehrung des Marschalls durch dessen Anhänger hinausgehend wichtige Funktionen für den jungen polnischen Staat in der Phase der Sanacja-Herrschaft zwischen 1926 und 1939 wahrzunehmen hatte." (27) Untersucht wird, wie der Kult dazu beitragen konnte, das polnische Gemeinwesen auf symbolischer Ebene zu integrieren und bei seinen Bürgern das Gefühl von staatsbürgerlicher beziehungsweise nationaler Identität herzustellen. Dieser Fragestellung geht Heidi Hein auf einer beeindruckend breiten Quellen- und Literaturbasis nach.
Einen Großteil ihrer Arbeit macht die Darstellung der Vermittlungsformen und der Hauptinhalte des Kultes aus: Hein untersucht dazu Presseorgane, Erinnerungsliteratur, die Institutionalisierung einer speziellen Piłsudski-Historiografie sowie Werke zum Geschichts- und Staatsbürgerunterricht. Daneben weitet sie ihren Fokus auf die Gestaltung von Briefmarken und Münzen aus, beschreibt die Pläne zur und die Errichtung von Museen sowie Denkmälern beziehungsweise Gedenkorten zu Ehren Piłsudskis und bezieht auch die Umbenennungen von Straßen sowie die Gestaltung von Feierlichkeiten und speziellen Feiertagen in ihre Analyse mit ein. Der Leser erhält damit einen umfassenden Einblick in die Symbolkultur der Zweiten Republik. Dennoch erfüllt die Studie nicht ganz die durch die eingangs formulierte Fragestellung geweckten Erwartungen.
Hein bleibt zu sehr einer vor allem deskriptiven Darstellung verhaftet, die den Piłsudski-Kult als "politisches Stilmittel" des seit dem Staatsstreich von 1926 regierenden Lagers der Sanacja in den Mittelpunkt der Untersuchung rückt. Trotz ihres Rekurrierens auf kulturgeschichtliche Ansätze in der Nationalismusforschung und ihres interessanten Quellenmaterials ordnet sie ihre Ergebnisse größtenteils in einen eher traditionellen politik- und ideologiegeschichtlichen Deutungsrahmen ein. Durch die Konzentration auf die Eliten des politischen Lagers der Sanacja und die fast völlige Ausblendung der Rezeption des Kultes durch andere politische Gruppierungen und weitere gesellschaftliche Kreise bleiben Fragen wie die nach der generellen Reichweite eines solchen elitär gesteuerten Projekts unterbelichtet. Die kursorischen Bemerkungen zur Rezeptionsgeschichte im Schlusskapitel der Studie beheben dieses Desiderat nur zu einem geringen Maße. Wie erkenntnisfördernd solche Fragestellungen hätten sein können, die über die reine Deskription des Kults hinausgehen, zeigt das sehr gelungene Kapitel über den Konflikt mit dem Krakauer Erzbischof Adam Sapieha, der im Jahr 1937 um die Grablege Piłsudskis in der Wawel-Kathedrale entbrannte. Hier wird der Kult anschaulich in allgemeinere Auseinandersetzungen um politische und gesellschaftliche Deutungsmonopole eingeordnet und aufgezeigt, wie andere wichtige gesellschaftliche Akteure mit der versuchten Etablierung des Kultes umgingen.
Am stärksten zum Widerspruch reizt die Darstellung der Ideologie des Sanacja-Lagers, von der Hein mehrfach schreibt, dass sie - da eigentlich nichtexistent - durch den Kult um Piłsudski ersetzt worden sei. Eine solche Betrachtungsweise erscheint jedoch als zu wenig trennscharf, wenn man die Metamorphosen verfolgt, die die Anhänger Piłsudskis sowie deren Nachfolger bei der Formulierung ihres politischen Programms durchliefen. Hier drängt sich die Frage auf, warum die föderalen staatsnationalen Konzeptionen des Ersten Marschalls in den 1930er-Jahren zunehmend auch im Sanacja-Lager einer integral nationalistischen Betrachtungsweise wichen, die das Adjektiv "polnisch" in einem exklusiv ethnischen Sinne begriff. Gerade wenn man auf die integrierenden Funktionen des Kultes abhebt, kann eine genauere Analyse von staatsnationalen beziehungsweise ethnisch-nationalen Staatsbürgerschaftskonzeptionen vor allem auch in Abgrenzung zum anderen großen politischen Lager der Zweiten Republik - der Nationaldemokratie Roman Dmowskis - nicht außen vor bleiben.
Trotz dieser Kritikpunkte hat die Verfasserin eine wichtige Studie vorgelegt, die für das Verständnis der politischen Kultur des polnischen Staates zwischen den beiden Weltkriegen von bleibendem Wert sein wird, da in ihr erstmals in umfassender Weise der bis in die heutige Zeit wirkungsmächtige "Gedächtnisort" Piłsudski für das polnische Gemeinwesen untersucht wird. Nicht zuletzt öffnet das Buch durch das Operationalisieren der Analysekategorie "Kult" den Blick auch auf andere europäische Staaten, die zu jener Zeit ihre Prägung ebenfalls durch "starke Männer" erhielten. Beschlossen wird die Studie durch einen ausführlichen Anhang, der neben einer Chronologie und Biogrammen von Personen, die eine wichtige Rolle für die Institutionalisierung des Kultes spielten, auch eine Auswahl wichtiger Quellen zur Illustration des Kultes präsentiert.
Claudia Kraft