Erika Herzfeld: Juden in Brandenburg-Preussen. Beiträge zu ihrer Geschichte im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin: Hentrich & Hentrich 2001, 202 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-933471-22-2, EUR 15,00
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Dieses Buch versammelt neun Aufsätze über ein Teilgebiet der jüdischen Geschichte im frühneuzeitlichen Deutschland, das auf Grund der Forschungsbedingungen auf beiden Seiten des geteilten Deutschland lange vernachlässigt blieb. Während es (neben grundsätzlicher Aufgeschlossenheit) auf der einen Seite vor allem am Zugang zu den archivischen Quellen mangelte, blieb auf der anderen die ernsthafte Bereitschaft aus, der Forschung einen Gegenstand freizugeben, der als solcher, durch den Preußenbezug und durch die kaum vermeidbare Miteinbeziehung der nach dem Zweiten Weltkrieg abgetretenen Gebiete belastet war. Mit Blick auf das preußische Pommern war das Verdikt um so schärfer, als die Reminiszenz an die historische Landschaft systematisch unterdrückt wurde. Während der zehn Jahre seit 1988, in denen die hier publizierten Aufsätze erschienen, bewegte sich Erika Herzfeld also auf historiographischem Neuland, beziehungsweise war sie selbst eine der ersten, die dieses Feld bestellt hat.
Fünf der Beiträge befassen sich mit den Juden in den altbrandenburgischen Gebieten, vier mit dem seit 1648 neuerworbenen Hinterpommern (ab 1720 mit Stettin). Thematischer Schwerpunkt ist die Rolle jüdischer Manufakturbetreiber, womit Herzfeld ihr Interesse an der Gewerbe- und Technikgeschichte Preußens bekräftigt. Am Anfang steht ein Beitrag über die Juden in Frankfurt an der Oder, wo 1671 zehn der aus Wien vertriebenen Familien Niederlassungsrecht erhielten. Sie trugen dort zur erhofften gewerblichen Entfaltung der Messestadt bei, indes wurde ihre Gegenwart von scharfen Protesten der Zunftbürgerschaft begleitet. Diese kulminierten nach der Besetzung der Stadt durch schwedische Truppen, als Bürgermeister und Rat die Kündigung des Judengeleits forderten, weil die Juden durch ihre angeblich geschlossene Flucht Verrat an der Bürgerschaft geübt hätten. Kurfürst, Geheimer Rat und neumärkische Regierung griffen diese Forderung auf und legten den Juden eine beträchtliche Strafe zur Wiedererlangung ihrer Geleite auf: ein treffendes Beispiel für die Ambivalenz der brandenburgischen Judenpolitik in den ersten Jahrzehnten seit dem berühmten Berliner Aufnahmeedikt von 1671, die fiskalischem Eigeninteresse wie auch ständischen beziehungsweise lokalen Freiheiten genügen wollte. Gleichzeitig aber deuten sich Aspirationen von Teilen der Beamtenschaft an, den vielfach bedrängten Juden Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Die folgenden vier Artikel befassen sich mit den Juden in Pommern: Im ersten geht es um die Anfänge ihrer Ansiedlung und deren Bedingungen, insbesondere durch das erste Generaljudenreglement von 1694. Ein Aufsatz widmet sich der im rohstoffarmen Pommern rückständigen Gewerbeentwicklung, ein weiterer den jüdischen Kaufleuten. Juden traten in Pommern als Händler beziehungsweise Verarbeiter (seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vermehrt manufakturiell) von Wolle, Leinen, Leder, Fellen und punktuell (Stolp) auch Bernstein hervor, wobei sie bei der Versorgung der Städte und vor allem des Militärs von steigender Bedeutung waren. Durch ihre Handelskontakte nach Osteuropa wurden sie "Mittler zwischen Ost und West".
Aktionsfeld und Rahmenbedingungen, gleichzeitig das Schicksal eines zunächst noch erfolgreichen jüdischen Händlers in der christlichen Gesellschaft, werden in Person des Kaufmanns Abraham Arndt aus Stargard aufgezeigt. Arndt erhielt 1681 einen Schutzbrief mit der wenig später unüblichen Konzession, mit beliebig vielen Knechten und Helfern Handel zu treiben. Für 1696 wird berechnet, dass die von ihm umgesetzte Warenmenge rund 50% des Gesamthandels der christlichen Kaufleute ausmachte (92). Diese fühlten sich dadurch provoziert, Gesetze zu erwirken, durch die die Juden aus den örtlichen wichtigen Gewerbefeldern ausgeschlossen wurden (zum Beispiel das Wollverkaufsverbot). Zuletzt suchte man sich Arndts gänzlich zu entledigen. Nachdem ihm im Schulterschluss mit der Geistlichkeit die Unterhaltung einer klandestinen Synagoge und "entsprechend" Christuslästerung nachgewiesen worden war, wurde er im Zuge des Nachweises unerlaubter Geschäftspraktiken in den Ruin getrieben. Er starb 1703 als ruinierter Mann, seiner Frau mit sieben Kindern immense Schulden hinterlassend.
In jenem Jahr lebten etwa 46 jüdische Familien in Preußisch-Pommern. Auch die vier mit Brandenburg befassten Aufsätze portraitieren jüdische Unternehmerpersönlichkeiten: Levi und Moses Ulff aus dem klevischen Wesel als Seidenbandmanufakturunternehmer in Charlottenburg, Isaac Levin Joel als Tapetenfabrikant in Potsdam, der Kaufmann Levin Joseph in Spandau und Moses Mendelssohn wiederum als Begründer einer Seidenmanufaktur in Berlin. Dass die gewerbliche Betätigung nicht Konsequenz unbehinderter unternehmerischer Disposition war, zeigt der Fall des Moses Ulff im klevischen Emmerich. Auch er hatte sich für die Errichtung einer Seidenmanufaktur entschieden: Hier war nicht mit der Intervention der Zünfte zu rechnen, ohnedies war die Wollverarbeitung für Juden vielfach verboten, und die Leinenherstellung ging noch nach rein handwerklicher Tradition vonstatten und war vom kaufmännischen Standpunkt daher unattraktiv (108). Die Anfechtungen eines christlichen Monopolisten zwangen ihn jedoch, seine Bandmanufaktur nach Charlottenburg zu verlagern. Dort aber wurde er andauernd Zielscheibe des Posamentierergewerks. Er starb 1737, so Herzfeld, trotz allen Engagements, "arm und verfolgt" (sein Sohn führte die Manufaktur immerhin noch lange fort).
Ärger noch erging es Levin Joseph, der unter ungünstigen persönlichen wie äußeren Bedingungen in der Kleinstadt Spandau 1789 Konkurs machte und als Bankrotteur dem Generaljudenreglement von 1750 zufolge samt Familie das Land zu verlassen hatte. Die Schicksale Arndts, Ulffs und Josephs stehen in deutlichem Kontrast zu den Erfolgsgeschichten eines Isaac Levin Joel, der seinen Söhnen 1785 eine erfolgreiche Tapetenmanufaktur in Potsdam hinterließ, oder des berühmten Moses Mendelssohn ( 1786), der als Teilhaber einer Berliner Seidenmanufaktur wirtschaftlich, überdies als angesehener Theoretiker des Unternehmertums reüssierte.
Sie mahnen, nicht nur die dünne Schicht der Erfolgreichen zu betrachten, sondern vielmehr auch die Armen - "und das war die Mehrzahl von ihnen", wie Herzfeld feststellt - beziehungsweise die Verarmten zu berücksichtigen. Dies ist freilich zunächst ein Quellenproblem, da die unteren sozialen Schichten in den Überlieferungen praktisch nur als "gemeines Übel" et cetera erscheinen, nie aber in einem spezifischen, geschweige denn biografischen Kontext. Dennoch finden sich in seriellen Überlieferungen immer wieder Anhaltspunkte für die Rekonstruktion jüdischer Lebensbedingungen. Die Arbeit, die Erika Herzfeld bei der detaillierten Recherche in den Primärquellen über die große Stern'sche Edition hinaus geleistet hat, ist meines Wissens einzigartig und macht das beeindruckende Verdienst dieser Publikation aus.
Die Reflexion der Forschung hingegen ist nicht ihre Stärke. Das gilt für die jüngere Forschung (die einzige geschlossene Forschungsarbeit zur Geschichte der pommerschen Juden ist ihr entgangen [1]), für die ältere (die wichtigen Arbeiten von Stefi [!] Jersch-Wenzel werden nur en passant erwähnt) beziehungsweise für die "ganz alte" (so wundert die unkritische Benutzung der Pommernforschung national-konservativer Provenienz à la Martin Wehrmann). So tauchen Wendungen auf, die sich durch den ursprünglichen Vortragscharakter manchen Aufsatzes zwar relativieren, einem höheren Maßstab aber nicht genügen ("Am meisten litten die Bauern, die der Soldateska völlig ausgeliefert waren und als freier Stand nicht mehr existierten", (34) "... trat der Adel damals fast immer für jüdische Belange ein" (35 und andere mehr).
Die Ausblendung von heute als zentral erachteten Themenfeldern (Gemeindeorganisation, Kultus in Norm und Praxis, Familien- und Geschlechterbeziehungen et cetera) zu Gunsten der Ereignis- und Faktengeschichte ist zweifellos aus dem Entstehungszeitpunkt beziehungsweise -kontext der Aufsätze zu erklären, denn nach der vagen Aussage im Vorwort von Hermann Simon, dem Direktor der Stiftung "Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum", stammen die Aufsätze aus der Zeit von "1958 bis 1993". Das Buch bilde somit den Ertrag eines Forscherlebens ab, mache also "eigentlich eine Festschrift" aus, die die gebürtige Pommerin zu ihrem 80. Geburtstag in den Händen halten konnte. Tatsache aber ist, dass die Beiträge in den Jahren 1993 und 1995 publiziert wurden. Ausnahme ist ein einziger, der schon 1988 in der damaligen DDR erschienen war.
Dies sollte klar gesagt werden, weil sonst der falsche Eindruck aufkommen könnte, als befinde sich die moderne Forschung zur Geschichte der Juden in bester Tradition zur DDR-Forschung. Das Gegenteil ist der Fall. Erst mit dem genannten Jahr 1988 ist in der DDR eine Öffnung gegenüber der jüdischen Geschichte festzustellen [2] - und auch dies nur mit Wohlwollen: Im Vordergrund stand im Juli 1988 die Einrichtung der Stiftung "Neue Synagoge in Berlin", die sich der 1995 abgeschlossenen Neuerrichtung der 1938 (durch Brandstiftung), 1943 (durch Bomben im Krieg) und schließlich 1958 (durch Sprengung im Frieden) zerstörten Synagoge widmete. Gleichzeitig organisierte die SED über das Ministerium für Kultur und den Staatssekretär für Kirchenfragen und mit dem "Verband der jüdischen Gemeinden" im Berliner Ermelerhaus eine Ausstellung zur Geschichte der Juden, die wie der Katalogband unter dem auf Erich Mühsam zurückgehenden Titel "Und lehrt sie: Gedächtnis" firmierte. Natürlich wurde die DDR dabei aller antijüdischen Tendenzen in Vergangenheit und Gegenwart freigesprochen ("Die in der DDR lebenden jüdischen Bürger können sich wohl und geborgen fühlen").
Anderswo gab es Parallelen: Hervorzuheben ist das "Kolloquium der Sektionen Geschichtswissenschaft und Theologie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald am 2. November 1988" mit dem Untertitel: "zur Geschichte der Juden in Pommern" nicht zuletzt deswegen, weil hier erstmals offiziell der Begriff "Pommern" Verwendung fand. Erika Herzfeld schilderte dort ihre Erlebnisse als Kind in Pommern. Der Anlass, des "faschistischen" Pogroms zu gedenken und damit in einer Weise wie nie zuvor auf die Juden im eigenen Land zuzugehen, verband sich seitens der SED mit dem Kalkül einer verstärkten Westanbindung, unschwer zu erkennen an der außerordentlichen diplomatischen Umtriebigkeit Erich Honeckers, die unter anderem auf einen USA-Besuch hin angelegt war. Leider nehmen Herausgeber und Verfasserin auf die ideologischen Belastungen dieses Themas unter zwei Diktaturen an keiner Stelle Bezug. Aber hätte nicht ein Wort darüber gesagt werden müssen, dass dieses Buch vor der "Wende" in der DDR nicht hätte erscheinen können?
Vielleicht ist dies nicht der Fall, weil Erika Herzfeld, die 1961 - zu einem Zeitpunkt, als die Geschichtswissenschaft in der DDR von den "Bürgerlichen" weitgehend gesäubert war - eine führende Stellung am "Museum für Deutsche Geschichte " in Berlin angetreten hatte [3], dem verordneten Geschichtsbild der DDR in Teilen selbst noch anhängt. Darauf deutet zumindest hin, wenn allen Ernstes behauptet wird, Hinterpommern sei vor dem Dreißigjährigen Krieg "ein selbständiges slawisches Herzogtum im Heiligen Römischen Reich" gewesen (17, ähnlich 33, 85), und dem wilhelminischen Kaiserreich ein Anteil an der Emanzipation der Juden abgesprochen wird (49). Damit soll nicht behauptet werden, derartige Aussagen seien unter den Bedingungen einer durchgängigen wissenschaftlichen Sozialisation in der DDR und, vor allem, nach der Erfahrung schlimmsten persönlichen Schicksals im Nationalsozialismus nicht verständlich. Wohl aber sei kritisch angemerkt, dass dieses an sich gute und verdienstvolle Buch gut daran getan hätte, seinen Gegenstand nicht aus dem Hintergrund seiner Erforschung zu lösen.
Anmerkungen:
[1] Lars Bäcker: Juden in Schwedisch-Vorpommern, Neuvorpommern von 1648-1871, Diss. masch. Greifswald 1993.
[2] Vgl. den im Netz verfügbaren Aufsatz von Manfred Behrend: Zwischen Wertschätzung und Diskreditierung - SED-Führung und Juden, in: Glasnost-Archiv, Oktober 2001 (http://www.glasnost.de/autoren/behrend/sedjuden.html).
[3] Vgl. jetzt für die Anfangsjahre des Museums Stefan Ebenfeld, Geschichte nach Plan? Die Instrumentalisierung der Geschichtswissenschaft in der DDR am Beispiel des Museums für Deutsche Geschichte in Berlin (1950 bis 1955), Marburg 2001.
Stephan Laux