Andreas Schulz: Vormundschaft und Protektion. Eliten und Bürger in Bremen 1750-1880 (= Stadt und Bürgertum; Bd. 13), München: Oldenbourg 2001, VIII + 770 S., ISBN 978-3-486-56582-9, EUR 99,80
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Als Band 13 in der von Lothar Gall herausgegebenen Reihe "Stadt und Bürgertum" ist jetzt die bereits 1997 in Frankfurt als Habilitationsschrift angenommene Arbeit von Andreas Schulz über das Bremer Bürgertum zwischen 1750 und 1880 erschienen. Im Einklang mit der zentralen Fragestellung des Frankfurter Forschungsprojekts "Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert" ist das Leitmotiv auch in Schulz' Erzählung über Bremen die "Einheit des städtischen Bürgertums" (4). "Einheit", "Bürgertum" und "Stadt" werden entsprechend zu den Schlüsselbegriffen der Studie, an denen sich die Detailanalysen zu vielschichtigen Forschungsergebnissen kristallisieren. Dabei konzentriert sich Schulz konsequent auf Kontinuität und Wandel im öffentlichen Raum der Hansestadt Bremen; seine Protagonisten treten entsprechend als Gelehrte, Kaufleute oder Ratsleute auf, nicht als Privatleute - Frauen sind auffällig abwesend in der gesamten Erzählung, werden aber durch einen separaten Eintrag im Register entschädigt.
Die Kategorie der "Einheit" dient Schulz als Orientierung bei der Untersuchung von drei unterschiedlichen Dimensionen. Die erste Dimension - eine der ursprünglichen Stoßrichtungen des Frankfurter Bürgertumsprojekts - setzt gegen die Hypothese vom Stadtbürger als dem "Fußkranken des Fortschritts" (Dieter Langewiesche) die Beobachtung von Veränderungs- und Assimilationstendenzen des Stadtbürgertums. "Einheit des städtischen Bürgertums" meint in dieser Dimension Aufhebung der Dichotomie des "'alten', das heißt angesessenen traditionsverhafteten 'Stadtbürgertums' und den 'neuen', außerhalb der Stadt sozialisierten innovationsfreudigen 'Bürgerlichen'" (703). Belegen kann Schulz diese Aufhebung an zahlreichen Beispielen von Aufsteigern, wie dem zugewanderten Fabrikanten Johann Friedrich Abegg, der es zum Bremer Senator brachte. Die zweite Dimension sieht in der "Einheit des städtischen Bürgertums" die "Funktion eines allgegenwärtigen sozialen Leitmodells von erheblicher Suggestionskraft". "Einheit" als Wunsch und Vorstellung des städtischen Bürgertums drückt sich in Neujahrsansprachen und Solidaritätsappellen ebenso aus wie in den hehren Erklärungen der ersten bürgerlichen Vereine - die allerdings in der realen Ausgestaltung dann doch nicht mehr waren als eine "Neuformierung des Stadtbürgertums von seiner gesellschaftlichen Spitze her" (228f.). Die dritte Dimension der "Einheit des städtischen Bürgertums", die Einheit als "faktische politische und soziale Geschlossenheit des Bürgertums" (4) schließlich kann Schulz überzeugend als Chimäre entlarven - sogar auf dem Gebiet der Kultur, der er im Gegensatz zu einer Theorie homogener "Bürgerlichkeit" einen eher destruktiven Einfluss zuschreibt: "Kulturell begründete Differenzen verstärkten die Tendenz zur getrennten Milieusozialisation und verhinderten lange Zeit die Formierung des Bürgertums als soziale Klasse" (710).
Gerade die Antwort auf die Frage nach der faktischen "Einheit des städtischen Bürgertums" hängt in hohem Maße von der Entscheidung darüber ab, wie man das "Bürgertum" abgrenzt. Hier verzichtet Schulz auf eine eindeutige Definition und folgt stattdessen den wechselnden Selbstdefinitionen der Bremer Bürger durch die Jahrhunderte. Für die "Generation der Hausväter" (21) zwischen 1750 und 1830 umfasste "Bürgertum" entsprechend die alten Bremer Honoratiorenfamilien, die zwar Aufsteiger integrierten, sich gegenüber dem Mittelstand im Allgemeinen aber abschotteten. "Stadtbürgerliche Eliten", "nach unten wie nach außen ein- und abgrenzbar" (702), definierten sich selbst als Inbegriff des Bürgertums und ließen die anderen Einwohner der Stadt außen vor. Die nachfolgende "Generation der Patriarchen" (237) sah sich im Vormärz zunehmend mit den Partizipationsforderungen aus den Reihen des Mittelstands konfrontiert, der sich seinerseits ebenfalls als Bürgertum verstand und gegen die herablassende "Kultur des Gebens und Nehmens" (706) rebellierte: "Konstituiert sich die städtische Gesellschaft zunächst auf patriarchalischer, elitenbürgerlicher Herrschaftsgrundlage [...], erweist sich dann sehr bald, dass die Integrationskraft dieses politischen Vormundschaftssystems den Emanzipationsansprüchen des bürgerlichen Mittelstands nicht standzuhalten vermag" (379). Die "Generation der Potentaten" (461) schließlich, die Bremen in den Nationalstaat führte, polarisierte das "Bürgertum" im Gegensatz zu Arbeiterschaft, war aber zugleich mit einer wachsenden Heterogenität innerhalb des "Bürgertums" konfrontiert, die nicht zuletzt an den genannten kulturellen Fragen zum offenen Konflikt werden konnte. Erst mit der Reichsgründung bot sich ein Ausweg aus dieser Heterogenität: "Das protestantische Bürgertum der Hansestädte fand durch die nationale Einigung auch zu einer neuen regionalen Identität" (693). Das Bremer "Bürgertum" war, so scheint es, ein sehr wandlungsfähiges soziales Gebilde mit unscharfer Abgrenzung nach außen, dominiert von einer nicht minder wandlungsfähigen "bürgerlichen Elite", deren Deutungsangebote allerdings zusehends weniger bedingungslose Akzeptanz fanden.
Das vielgestaltige "Bürgertum", dessen Einheit von den Zeitgenossen zwar beschworen, aber nicht realisiert wird, verliert als Konzept im Laufe der Untersuchung von Schulz mehr und mehr an Bedeutung. Wichtiger wird dagegen der Bezugspunkt "Stadt" für das Verständnis der "Einheit des städtischen Bürgertums": "Stadtbürgertum und Stadt - bildeten auch um 1880 noch einen sozialen Kulturraum und ein politisches Identifikationssystem, das für die bürgerliche Gesellschaft insgesamt von zentraler Bedeutung war. Ob man als Reichstagsabgeordneter ein nationales Mandat wahrnahm oder als Handelsunternehmer auf den Weltmärkten zu Hause war - das stadtbürgerliche Herkunftsmilieu und die Stadt blieben feste Bezugspunkte im Leben eines Bürgers" (701). Für die Bremer war dabei Stadt, so führt Schulz aus, nicht nur gleichbedeutend mit den lokalen Traditionen und Erfahrungen, sondern auch und vor allem ein Synonym für Wohlstand und Wachstum, manifestiert in wirtschaftlichem Erfolg wie etwa dem der Norddeutschen Lloyd. Auch die ideelle und ideale "Einheit des städtischen Bürgertums" hat somit einen durchaus materialistischen Kern. Schulz sieht das Aufkommen dieses "bürgerlichen Materialismus" (708) - gespeist aus den Diskussionen der Wirtschaftswissenschaftler - in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, eng verbunden mit dem "innerprotestantischen Kulturkampf" (708), zwischen Tradition und Fortschrittsoptimismus. Ansätze der materialistischen Orientierung der Bremer Bürger finden sich aber auch schon früher, etwa in der starken Rolle der Kaufleute in den politischen Gremien auch schon des Ancien Régime oder in der wichtigen Rolle, die Armenfürsorge und das Bemühen um öffentliches Wohl über den gesamten Zeitraum hinweg gespielt haben. Mit seinem Hinweis auf den "bürgerlichen Materialismus" hat Schulz so möglicherweise ein Interpretament an der Hand, das gerade im Kontext handels- und hansestädtischen Selbstverständnisses einen erheblichen Beitrag zum Verständnis der "Einheit des städtischen Bürgertums" leisten kann.
Flüssig, oft unterhaltsam geschrieben, an liebevollen Details ebenso reich wie an originellen Interpretationsangeboten, ist die Arbeit von Andreas Schulz ebenso sehr ein wichtiges Element im Reigen der Studien aus dem Frankfurter Bürgertumsprojekt wie eine sehr individuelle Geschichte des Bremer Bürgertums in einer Zeit vielfältiger Herausforderungen, und sie regt - auch noch nach 790 Seiten dichter Lektüre! - zum Nach- und Weiterdenken an.
Anja Hartmann