John Martin / Dennis Romano: Venice Reconsidered. The History and Civilization of an Italian City-State, 1297-1797, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2000, XIII + 538 S., ISBN 978-0-8018-6312-7, USD 55,00
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John Martin und Dennis Romano legen mit Venice Reconsidered einen grundlegenden, umsichtig eingeleiteten und sorgfältig lektorierten Band einer im September 1997 an der Syracuse University stattgefundenen Tagung vor. Trotz eines Schwerpunkts auf vorwiegend historischen Beiträgen zur Geschichte und Zivilisation Venedigs versammelt der Band ebenfalls Aufsätze zur venezianischen Kunst und Kultur. Ziel des wissenschaftlichen Austausches war, Venedigs Geschichte und Zivilisation zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert neu zu betrachten.
Die renommierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler äußern sich vorrangig zu etablierten Themen der politischen und sozialen Kultur der Stadt (Pincus, Muir, Gleason, Mackenney), ihrer städtischen Eliten (Chojnacki, Rösch, Grubb), ihrer kulturellen Produktion (Feldman, Humfrey) und ihrer materiellen Kultur (Fortini Brown). Aber es wird auch Venedigs Bedeutung als europäisches Informations- und Kommunikationszentrum (Burke) reflektiert, die Haltung der venezianischen Regierung in der Sklavenbefreiung diskutiert (Davis), eine sozialhistorische Frauengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts geschrieben (Ambrosini) und ein erweitertes Konzept des venezianischen Mythos (Crouzet-Pavan) entwickelt. Abschließend wird der Blick auf die venezianische Historiographie nach dem Untergang der Republik gerichtet (Povolo). Diese insgesamt 15 Aufsätze verteilen sich vorwiegend auf Part II ("Politics and Culture") sowie Part III ("Society and Culture"). Part I ("The Setting") und Part IV ("After the Fall") sind jeweils nur durch einen Beitrag vertreten.
Inwiefern revidiert nun der Band ältere Einsichten oder stellt neue Fragen? Die gewonnenen Erkenntnisse fallen allesamt sehr differenziert und nuanciert aus - es werden dynamische Prozesse erschlossen, wo einst Einschnitte vermutet wurden, aber auch traumatische Ereignisse aus der politischen und militärischen Geschichte Venedigs neu gewichtet. Beispielhaft für das historische Feingefühl dieses Bandes sind die Beiträge von Gerhard Rösch und Stanley Chojnacki. Rösch bricht mit der Auffassung, die Schließung des Großen Rates von 1297, ein konstitutioneller Akt, der als Serrata in der älteren venezianischen Historiographie bekannt ist, habe eine fest umrissene politische Elitenstruktur und Verfassung Venedigs hervorgebracht. Sein Beitrag, der auf seiner bedeutenden Studie "Der venezianische Adel bis zur Schließung des Großen Rats" (1989) basiert, macht deutlich, dass die venezianische Elite durch einen graduellen Prozess "of social, legal and political adjustment" (67) definiert wurde, der mehrere Jahrzehnte andauerte. Chojnacki analysiert die Prozesse "of patrician self-definition" (263) unter dem Eindruck venezianischer Krisen - wie etwa die Niederlage bei Agnadello 1509 - und zeigt, wie sie zu einer Reihe von legislativen Akten der Registrierung adeliger Geburten und Ehen führten. Chojnacki revidiert die Auffassung, die venezianische Verfassung und das venezianische Patriziat seien eine mittelalterliche Schöpfung, und betont hingegen die Prozesshaftigkeit, die dem "self-fashioning" adeliger Identitäten noch im 15. und 16. Jahrhundert inhärent war. Eine rigide Sozialstruktur und Hierarchie Venedigs, wie vielfach angenommen, lässt sich damit weder für die politische Elite der Stadt, das Patriziat, noch die cittadini - die "elite citizens" - attestieren, einer bürgerlichen Beamtenschicht mit äußerst geringem politischen Einfluss (vergleiche den Beitrag von James Grubb).
Die Bedeutung der Schlacht von Agnadello taucht wiederholt in einzelnen Beiträgen auf. Während Elisabeth Gleason das "Trauma", das diese Niederlage auslöste - bislang galt sie der Geschichtsschreibung als "turning point" der venezianischen Geschichte - zu relativieren versucht, indem sie ihre Analyse bis zum Frieden von Bologna 1530 ausweitet, untersucht Edward Muir diese Niederlage Venedigs 1509 durch die Liga von Cambrai hinsichtlich ihrer Auswirkungen für eine "history of republicanism" (139). Erst nach der Schlacht von Agnadello entstand Gasparo Contarinis Klassiker "De magistratibus et republica Venetorum", durch welchen der venezianische Mythos seine Ausformulierung als ausgewogene politische Theorie erfuhr. Desweiteren lasse sich anhand der Niederlage von Agnadello die "exportability" des republikanischen Systems auf die Terraferma überprüfen (141). Muir nimmt sich damit der These des italienischen Historikers Angelo Ventura an, der venezianische Republikanismus habe für das Leben auf der Terraferma wegen der allgemeinen Aristokratisierung des Lebens und eingeschränkter Freiheiten kaum Bedeutung gehabt; er differenziert diese These, indem er unter anderem auf die Justiznutzung einer friulanischen Bauerngemeinde aufmerksam macht, für die republikanische Traditionen durchaus entscheidend waren. Die elf überwiegend ökonomische Aspekte betreffenden Artikel, welche die Gemeinde 1509 dem venezianischen luogotenente unterbreitete, lassen auf ein Verständnis von res publica schließen, das die Fähigkeit der Regierung meint, das "public good" (153) zu beschützen. Richard Mackenneys Interesse gilt der spanischen Verschwörung von 1618, dem vermeintlichen Versuch, die venezianische Republik militärisch einzunehmen, die ganze Generationen von Historikern in Atem hielt - unter ihnen auch Leopold von Ranke (man denke nur an seine "Verschwörung gegen Venedig").
Die Kunsthistorikerin Fortini Brown gewährt mit ihrem Beitrag zur materiellen Kultur der städtischen Eliten Einblicke "behind the walls" der venezianischen Reniassancepaläste. Sie führt die Bedeutung von weltlichen Gütern für die Konstruktion von individuellen Identitäten und von Familienidentitäten vor. Gleichzeitig zeigt sie, wie die Zurschaustellung materieller Reichtümer wesentlich kaufmännische Tugenden wie "prudence" und "frugality" (295) bedrohte - und somit die Solidarität der "ruling class" an sich. Mit der zunehmenden Konzentration von Besitz in immer weniger Händen des Patriziats und der besitzenden "commoners" lebte (auch) eine wachsende Zahl an Adeligen in relativer Armut. Die Luxusgesetze, so die These von Fortini Brown, galten daher nicht der Verschärfung der sozialen Distinktion wie in anderen frühneuzeitlichen Städten, sondern sollten gerade den Graben zwischen Adeligen und reichen "commoners" vermindern helfen. Privater Reichtum - so eine venezianische Maxime - hatte auch den öffentlichen Frieden nicht zu gefährden.
Peter Burkes Venedig ist ebenfalls reich - reich an Informationen. Der britische Kulturhistoriker illustriert in seinem Beitrag die Bedeutung Venedigs im 15. und 16. Jahrhundert als einem europäischen Zentrum für ökonomische und politische Neuigkeiten - insbesondere solche das Ottomanische Reich betreffend. Venezianische Kaufleute, Händler, Diplomaten, aber auch residierende ausländische Botschafter schufen wichtige Netzwerke, mithilfe derer sich Informationen leicht beschaffen ließen. Neben den offiziellen Kanälen unterhielt die venezianische Regierung ein reges Netzwerk an Spionen und Agenten; überdies zirkulierten Neuigkeiten innerhalb der Stadt schnell auf schriftlichem und mündlichem Weg - schon 1567 galt Venedig einem Deutschen als eine "metropolis of news" (397). Die Heterogenität der Bevölkerung machte Venedig zudem zu einer kosmopolitischen Stadt mit einem polyglotten Charakter und einer aktiven Beteiligung der "subcultures" (Griechen, Juden, Slowenen) an der kulturellen (Druck-) Produktion. Obwohl andere kulturelle Zentren wie Paris und Amsterdam Venedig zunehmend den Rang abliefen, deutet Peter Burke diesen kulturellen Bedeutungsverlust nicht ausschließlich als "decline" - im 17. Jahrhundert kamen trotz geringerer kultureller Produktion neue Themen auf, wie etwa die "natural philosophy", und auch das Postsystem expandierte. Die bedeutendste inhaltliche Verschiebung lässt sich mit einem Prozess benennen, den Burke als "intellectual involution" bezeichnet - von einem Zentrum über die östliche Welt wird Venedig zunehmend zu einem Informationszentrum über sich selbst.
Abschließend wird ein Blick auf die Historiographie des 19. (und 20.) Jahrhunderts geworfen. Claudio Povolo würdigt Pierre Antoine Noël Darus einflussreiche "Histoire de la République de Venise" (1819), ein Werk, das mit seiner scharfen Kritik an der "ruling class" bei Zeitgenossen heftige Irritationen und nicht wenige Gegenschriften hervorrief. Bei Daru ist es das politische venezianische System selber, welches den Untergang der Republik - eigentlich eine verkappte Oligarchie - generiert. Paradoxerweise wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf der Suche nach einem vorbildlichen "starken" Staat Venedigs politische Geschichte erneut als Erfolgsgeschichte umgedeutet. Dass Venedig keine Fremdherrschaft und niemals die "domestic tyranny" (508) seiner regierenden Elite zu erdulden gehabt habe, sind die Argumente, die nicht nur zu dem traditionellen Kanon der Mythos-Tradition zählen, sondern auch mit Blick auf ein vereintes Italien nun erneute Überzeugungskraft erhalten. Mit diesem Ausblick auf die ältere Geschichtsschreibung bietet Povolo einen frischen Blick auf bekannte Diskussionszusammenhänge. Dies lässt sich als Fazit für den gesamten Band festhalten.
Daniela Hacke