Arno Herzig / Hans H. Horch / Robert Jütte (Hgg.): Judentum und Aufklärung. Jüdisches Selbstverständnis in der bürgerlichen Öffentlichkeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 240 S., ISBN 978-3-525-36262-4, EUR 28,00
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Robert Jütte: "Ein Wunder wie der goldene Zahn". Eine "unerhörte" Begebenheit aus dem Jahre 1593 macht Geschichte(n), Ostfildern: Thorbecke 2004
Robert Jütte: Lust ohne Last. Geschichte der Empfängnisverhütung von der Antike bis zur Gegenwart, München: C.H.Beck 2003
Robert Jütte: Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace, München: C.H.Beck 2000
Der vorliegende Sammelband stellt eine Art Zwischenbericht eines Großprojekts dar, das die Deutsche Forschungsgemeinschaft unter dem Gesamttitel "Wandlungsprozesse im Judentum durch die Aufklärung - Interaktionen, Strukturen, Manifestationen" seit 1994 fördert. (Acht) Einzelprojekte steuern je einen Forschungsbericht bei. Dabei handelt es sich um ein interdisziplinär angelegtes Projekt verschiedener Einzelwissenschaften, die sich von verschienenden Forschungsansätzen her mit dem Aufklärungsdenken im deutschen Judentum beschäftigen.
Die jüdische Aufklärung - Haskalah -, die eng mit dem Namen Moses Mendelssohn verknüpft ist, stellt eine Zäsur innerhalb der jüdischen Geschichte dar, die weit über Preußen hinaus wirkte. Sie ließ das (jüdische) Mittelalter zurück, lockerte die Fesseln, die das Judentum an das Getto band, schuf die Voraussetzung und war Vorbote des nachfolgenden Emanzipationsprozesses, und war schließlich der Wegbereiter einer fruchtbaren deutsch-jüdischen Beziehungsgeschichte, die freilich nur ein Intermezzo blieb. Dass überlieferte religiöse und gesellschaftliche Strukturen nicht ohne weiteres aufgegeben werden konnten, um "Anschluss" an die christliche Umgebungsgesellschaft zu finden, belegen die konfliktreichen innerjüdischen Debatten im Spannungsfeld zwischen Tradition und Aufbruch in die Moderne.
Die Voraussetzung jüdischerseits, sich aus den überkommenen Traditionen zu lösen, entsprachen dem damaligen Zeitgeist: Es waren zunächst die so genannten Hofjuden, denen, retrospektiv betrachtet, die Rolle als Wegbereiter der Emanzipation und Akkulturation zufiel. Am Beispiel der Hofjuden lässt sich die Frage der Ambivalenz deutsch-jüdischer beziehungsweise europäisch-jüdischer Existenz identitätsgeschichtlich festmachen. Darüber berichtet in einer kritischen Würdigung Rotraud Ries, die in den Hofjuden und deren Nachfahren keineswegs eine monolithische Gruppe erkennt.
Gewiss, ohne die Emanzipationsbereitschaft "wohlmeinender" Notabeln à la Dohm hätte es von jüdischer Seite keine Versuche gegeben, sich einem Aufklärungsgedanken hinzugeben. Und es muss als durchaus tragisch bezeichnet werden, dass unter den "deutschen" Aufklären eine ambivalente Haltung tonangebend war, die von den Juden nichts anderes erwartete, wenn nicht forderte, ihr "Sondersein", ihre jüdische Identität aufzugeben und im Deutschtum samt und sonders aufzugehen. Aufklärung und Integration unter dem Synonym "Emanzipation", das waren zwei Seiten einer Medaille.
Nach Einschätzung der Herausgeber führte der Weg nur eines kleinen Teils der deutschen Juden in die Assimilation und zur Aufgabe jüdischer Identität bis hin zur Taufe. Letzterem kann man uneingeschränkt zustimmen, ansonsten seien Zweifel vorgebracht. Das gilt ebenso für die Aussage, dass die orthodoxe Richtung ein "wichtiger Faktor" des deutschen Judentums blieb. Sie schreiben den deutschen Juden einen "Mittelweg" zu, der die gesellschaftliche Integration zwar anstrebte, der jedoch nicht in die Assimilation münden sollte. Als eine weitere Reaktion des deutschen Judentums auf die Ideen der Aufklärer (Maskilim) rubrizieren die Herausgeber die Betonung des jüdisch-nationalen Elements. Wenn dies Gültigkeit besäße, wären bisherige Forschungsergebnisse auf den Kopf gestellt.
Die Haskalah war nichts von der allgemeinen europäischen Aufklärungsbewegung Losgelöstes, folgte aber dennoch einer "eigengesetzlichen" Entwicklung. Von dem durch die Aufklärung verursachten Akkulturationsschub profitierten die jüdischen Mediziner, die schon lange vorher die Funktion von Vermittlern zwischen christlicher und jüdischer Kultur eingenommen hatten. Eberhard Wolff zeigt in seinem Aufsatz die divergierenden Argumentationsweisen von jüdischen Ärzten und Rabbinern hinsichtlich der Reform der Beschneidung auf. Gerade an dieser Frage berührte sich der Aufklärungsgedanke insofern, als Ärzte nur noch dann religiöse Argumente zu akzeptieren bereit waren, wenn diese medizinischen Erkenntnissen nicht widersprachen.
Wie kaum in einem anderen Bereich spiegelt sich der Emanzipationswillen so sichtbar wie im Synagogenbau: Die architektonische Ausdrucksform beim Bau jüdischer Gotteshäuser im 19. Jahrhundert zeugt ebenso von einer nicht zu übersehender Annährung an "christliche" Baustile wie - nimmt man liturgisch-assimilatorischen Elemente hinzu - von dem Selbstbewusstsein, gleichberechtigt zur christlichen Umgebungsgesellschaft zu gehören. Saskia Rohde zeigt dieses Phänomen eindrucksvoll auf.
Wie zäh sich am Beerdigungswesen ein jüdischer Traditionalismus hielt, beschreibt Gabriele Zürn in ihrem Essay am Beispiel der Gemeinde Altona. Mochten sich unter dem Einfluss der Haskalah in der Sepulkralkultur einige Modernisierungstendenzen durchsetzen, an der religiösen und sozialen Bedeutung der Beerdigungsbruderschaften, der Chewra Kadischa, war nicht zu rütteln. Die Maskilim leiteten einen Großteil ihrer Kritik aus den "Zuständen" in den Talmudschulen ab und nahmen die Pädagogen als Protagonisten überkommenen Denkens ins Visier. Gerade an der Erziehungsfrage schieden sich die Geister: Diejenigen, die beim Althergebrachten verharren wollten, standen im Widerspruch zu denen, wie die Lehrer der Berliner jüdischen Freischule es sich in ihren Lehrplan geschrieben hatten, die sich einer Integration in die Mehrheitskultur nicht länger verschließen wollten. Ingrid und Uta Lohmann spürten den pädagogischen Vorstellungen dieses innovativen Modells nach.
Im Mittelpunkt des Beitrags von Eva Groiss-Lau steht die israelitische Kreisversammlung in Bayern aus dem Jahre 1836, auf der zwar liberale Reformvorschläge tonangebend waren, jedoch die Orthodoxie mit Unterstützung der königlichen Regierung am Ende die Oberhand behielt. So wie die Rabbiner auf der Versammlung aus dem Jahre 1836 weiterhin den religiösen Diskurs bestimmten, so traten sie auch als Sprecher eines dezidierten Untertanengeistes auf, wie Hans-Michael Haußig am Beispiel der Huldigungsrede des orthodoxen Rabbiners Israel Deutsch anlässlich der Inthronisation des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm IV. aufzeigt: Die Werte des traditionellen Judentums mit der allgemeinen politischen Kultur in Einklang zu bringen, war ein Spagat, der letztendlich misslingen musste.
Der Aufsatz von Gabriele von Glasenapp über die Autoren der so genannten Ghetto-Literatur, einem spezifisch jüdischen Genre, schließt den Band ab. In den Erziehungs- und Bildungsromanen der Auerbachs, Kuhs, Komperts, Franzos' oder Bernsteins (Aron!) hat sich der Wandlungsprozess der jüdischen Aufklärung niedergeschlagen - sozial-, religions- und mentalitätsgeschichtlich, aber auch der problembehaftete Antagonismus zwischen autochthonem deutschen Judentum und dem traditionsbeladenen Ostjudentum.
Unter dem Strich und post festum erwiesen sich die jüdischen Reformbemühungen als gescheitert, wenn auch nicht vergeblich. Die Beharrungskräfte der Emanzipationsgegner in Preußen-Deutschland konnten sich ganz ohne größere politischen Widerstände gegenüber den Integrationsbefürwortern mühelos durchsetzen, was Jahrzehnte später konsequenter Weise in die größte Katastrophe der Menschheitsgeschichte münden sollte.
Ludger Heid