Hans Vlieghe (ed.): Van Dyck 1599-1999. Conjectures and Refutations, Turnhout: Brepols 2001, VIII + 312 S., ISBN 978-2-503-51144-3, EUR 62,00
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Die Beiträge des Sammelbandes gehen überwiegend auf ein vom 17.-19. Mai 1999 in Antwerpen abgehaltenes internationales Kolloquium zurück. Der Titel des Buches folgt Karl Poppers "Vermutungen und Widerlegungen - das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis". Dem damit proklamierten epistemologischen Anspruch entsprechend revidieren die durchgehend fundierten Beiträge Behauptungen der älteren und jüngeren Forschung besonders zur Biografie van Dycks, zu Zuschreibung und Datierung, zu Auftraggebern und künstlerischem Einfluss kritisch und öffnen viele neue Aspekte:
Gregory Martin ("When did Van Dyck leave Van Balens's Studio", 3-6) ordnet Quellen und Werke für das Ende von van Dycks Lehrzeit bei dem Antwerpener Historienmaler van Balen im Herbst 1615 und seine ab 1617 anzunehmende Mitarbeit bei Rubens.
Anne-Marie Logan klärt überzeugend die Zuschreibung mehrerer Zeichnungen, die bisher zwischen van Dyck und Rubens strittig sind ("Distinguishing the Drawings by Anthony van Dyck from those of Peter Paul Rubens", 7-28). So weist sie etwa die neuerdings an van Dyck gegebene Werkgruppe kraftvoller Landschaftsstudien mit guten Gründen wieder Rubens zu.
Arnout Balis gliedert einige Zeichnungen aus dem Corpus der rubensschen Antikenstudien aus und schreibt sie van Dyck zu, von dem bisher kaum Antikenstudien bekannt waren ("Van Dyck's Drawings after the Antique", 29-42).
Elizabeth McGrath identifiziert das historische Ereignis, zu dem van Dyck in Palermo die Skizze einer Hexe in sein Skizzenbuch notiert ("'Una striga in Palermo'. A Sicilian Document from the Italian Sketchbook", 43-51). In Einklang mit der Ikonographie der liturgischen Verdammung von Häresie ("Auto da Fé") zeigt sie, dass hier nicht etwa eine zur Hinrichtung gehende Verurteilte, sondern der Bußgang einer von der Inquisition am 19. Mai 1624 mit geringerer Strafe Entlassenen zu sehen ist.
Die gängige Annahme, van Dyck sei 1628 oder 1629 in Den Haag gewesen, widerlegt Frans Baudouin. Eine Neuordnung der Quellen ergibt, dass van Dyck im Frühling und im Winter 1631 nach Den Haag gereist sein muss. ("Van Dyck in The Hague", 53-64).
Horst Vey widmet sich van Dycks größtem Gruppenbild, das die über 20 Mitglieder des damaligen Brüssler Magistrats zeigte ("Van Dyck's Two Lost Group Portraits for the Brussels Town Hall", 65-75). Anhand einiger Kopfstudien, zeitgenössischer Beschreibungen und anderer Amtsporträts beschreibt Vey die ungefähre Gestalt und den ursprünglichen Kontext des Werkes, das 1695 dem französischen Bombardement Brüssels zum Opfer fiel.
Zu van Dycks Biografie, zu seinem Selbstverständnis und zur Rezeption seiner Porträts erschließt David Howarth bisher unpublizierte Dokumente aus dem Briefwechsel Balthazar Gerbiers ("The 'Entry Books' of Sir Balthazar Gerbier: Van Dyck, Charles I and the Cardinal-Infante Ferdinand", 77-87). Besonders überraschend ist, dass van Dyck auch in diplomatische Initiativen Maria de Medicis verwickelt war, und dass er während der 1630er-Jahre offenbar zugleich dem englischen König und dem habsburgischen Statthalter in den Niederlanden verpflichtet war.
Mit ikonographischen und stilanalytischen Argumenten bringt Fiona Healy Ordnung in van Dycks Darstellungen mit Maria und Jesuskind ("Images of the 'Madonna and Child' and 'The Holy Family' in Van Dyck's Oeuvre", 89-112). Ihre Analyse der Bildrhetorik erschließt auch die religiöse Dimension des Motivkreises, der bisher für van Dyck als Maler der katholischen Reform vernachlässigt wurde.
Den für Rubens so bedeutenden Einfluss altdeutscher Druckgrafik und Malerei prüft Kristin Lohse Belkin für van Dyck kritisch ("Van Dyck and Holbein: Sixteenth-century Northern Sources", 113-126).
Sir Oliver Millar gibt einen Überblick der Arbeit van Dycks am englischen Hof ("The Years in London: Problems and Reassessments", 129-138).
Eine mustergültige ikonologische Studie zu van Dycks Reiterporträt Charles' I bietet Gudrun Raatschen ("Van Dyck's Charles I on Horseback with M. de St Antoine", 139-150). Aus der sorgfältigen Beobachtung von Bildsyntax und -semantik kann sie die ursprüngliche Bedeutung des Werks im Kontext der Krönung von Charles I 1633 in Edinburgh als 'adventus' des neuen Herrschers und als Ausdruck eines imperialen Machtanspruchs präzisieren.
Auch Arthur Wheelock bettet die van Dycksche Porträtkunst in die karolinische Bildpolitik ein ("The Queen, The Dwarf and the Court: Van Dyck and the Ideals of the English Monarchy", 151-166). Besonders die Rekonstruktion des Weges, auf dem Rubens aus dem Dienst als Brüssler Hofmaler über die katholische Gemahlin des englischen Königs, die Tochter der damals in Brüssel weilenden Maria de Medici, in die Gunst des englischen Königs fand, überzeugt und ergänzt Howarths Überlegungen zu einem schon 1631 bezeugten Interesse von Charles an van Dyck (80).
Der konfessionellen Problematik des katholischen Hofmalers van Dyck am protestantischen englischen Hof geht Jeremy Wood nach ("Van Dyck: A Catholic Artist in Protestant England, and the Notes on Painting Compiled by Francis Russell, 4th Earl of Bedford", 167-198). Sowohl die Konfessionalität des Malers als auch des Hofes und seiner wichtigsten Auftraggeber gerät dabei in den Blick. Aufschlussreich ist der Appendix handschriftlicher Notizen eines der puritanischen Auftraggeber van Dycks zur Malerei. Ästhetische Hochschätzung überwiegt hier jede denkbare Skepsis gegen eine in London gelegentlich als Teil katholischer Intrigen denunzierte Malerei. Woods Mutmaßung, eine Toleranz, wie sie van Dyck in London erfuhr, sei an katholischen Höfen erst nach dem Westfälischen Frieden möglich gewesen (193, Anmerkung 10), muss allerdings korrigiert werden. So lud etwa der Brüssler Erzherzog Albrecht den Hofmaler von Maurits von Oranien, Michiel Jansz. van Mierevelt, 1610 ein, sein Hofmaler zu werden, und sagte hierfür volle Toleranz für dessen Wiedertäufertum zu [1].
Eva Struhal analysiert die "Posen und Gesten in van Dycks Porträts - Das Ehebildnis Karls I. und Henrietta Marias in Kremsier und das Porträt Olivia Porters" ikonologisch (199-210).
Wie differenziert van Dyck je nach Auftraggeber auf lokale und temporäre Kleidungsmoden einging, in seinen späten englischen Jahren aber auch tradierte Motive und Elemente von Theaterkostümen frei und doch zielgerichtet kombinierte, belegt Emilie E.S. Gordenker ("Aspects of Costume in Van Dyck's English Portraits", 211-226).
Axel Heinrich entwickelt Kriterien zur Charakterisierung des Einflusses von van Dyck auf "Thomas Willeboirts Bosschaert (1613/14-1654). Ein flämischer Nachfolger van Dycks - Abhängigkeit und Eigenständigkeit" (253-269).
J. Douglas Stewart schreibt mit überzeugenden Argumenten Zeichnungen und Gemälde Pieter Thijs neu zu und grenzt dessen Werk von dem Bosschaerts und van Dycks ab ("Thomas Willeboirts Bosschaert and Pieter Thijs: A Tale of Two Tangled Antwerp Painters; with an Excursus on Van Dyck's 'St Felix of Cantalice'", 271-288).
Stephanie S. Dickey untersucht die Wirkung von van Dycks druckgraphischem Großprojekt "Iconographia" auf spezifische Arbeitsweisen und Ausdrucksmittel der Druckgrafik Rembrandts und Lievens' ("Van Dyck in Holland: The Iconography and its Impact on Rembrandt and Jan Lievens", 289-303).
Anhand der biografischen Quellen des 17. Jahrhunderts widerlegt Katlijne van der Stighelen Valentiners Versuch einer Charakterbeschreibung van Dycks als eines femininen Snobs ("Van Dyck's Character revisited: Valentiner versus de zeventiende-eeuwse historiografische traditie", 229-251). Durch alle Künstleranekdoten hindurch entsteht stattdessen das Bild eines schon früh um sein "Image" als Schlüssel zum sozialen Erfolg bemühten "workaholics".
Zum Abschluss behandelt Jeffrey M. Muller die Tradition der nationalistischen van Dyck-Deutung des späten 19. und des 20. Jahrhunderts ("Anthony van Dyck and Flemish National Identity: A Clash of Images between the Two World Wars", 305-312). Alle Bewertungen van Dycks als Prototyp überfeinerter, verweichlichter und kränklicher Dekadenz beruhen auf dem nationalistischen Klischee einer ursprünglich kraftvollen flämischen Natur. Muller betont, dass sich Frank van den Wijngaert hiervon nicht infizieren ließ. Mitten in der nationalsozialistischen Besatzung schilderte er van Dyck 1943 als Gegenpol zu diesem Zerrbild der eigenen Nation und 1949 als Vorbild für ein neues, internationales Europa: Verwurzelt in einer großen lokalen Tradition, aber fähig, diese in die verschiedensten Zentren zu exportieren.
Die vielfältigen Beiträge bieten der van Dyck-Forschung zahlreiche neue Erkenntnisse. Nicht nur einzelne Werke und Werkgruppen wie das Brüssler Magistratsporträt, die Marienbilder und manche Hofporträts lassen sich nun in ihrer zeitgenössischen Adressierung klarer fassen. Auch van Dycks zeichnerisches Oeuvre wird entscheidend revidiert, die Untersuchung seiner Auseinandersetzung mit der Antike, Rubens, italienischen und altdeutschen Vorbildern erhält neuen Boden. Der Zeichner erscheint als sensibler Beobachter von Alltag und Zeitgeschichte ebenso wie von nuancierten Kleidungskonventionen. Van Dycks Biografie wird in chronologischer Hinsicht und im Hinblick auf soziale und konfessionelle Einbindung und Auftraggeberschaft erheblich bereichert, die Wirkung seines Werkes wird deutlicher und überraschenderweise für die Radierkunst seiner Generationsgenossen Rembrandt und Lievens zusammenhängend sichtbar. Und all dies geschieht jeweils in einer differenzierten Auseinandersetzung mit den älteren und neueren Forschungstraditionen.
Auch in formaler Hinsicht hat Hans Vlieghe den Band mit der im Umkreis des Antwerpener Rubenianums üblichen Sorgfalt herausgegeben. Brepols Publishers, der in Publikationen zur flämischen Kunst seit Jahren Maßstäbe setzende Verlag, hat das seine dazugetan, ein in Lay-out und Abbildungsqualität sorgfältig durchgestaltetes Buch vorzulegen, dem die verdiente Aufmerksamkeit der internationalen Forschung zur flämischen Kunst sicher sein dürfte.
Anmerkung:
[1] Vgl. Ulrich Heinen, in: Der Krieg als Person. Herzog Christian im Bildnis von Paul Moreelse. Ausstellungskatalog Herzog Anton Ulrich-Museum, Braunschweig 2000, S. 118.
Ulrich Heinen