Etienne François / Hagen Schulze (Hgg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1, München: C.H.Beck 2001, 725 S., 77 Abb., ISBN 978-3-406-47222-0, EUR 34,90
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Etienne François / Hagen Schulze (Hgg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 2, München: C.H.Beck 2001, 740 S., 77 Abb., ISBN 978-3-406-47223-7, EUR 34,90
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Etienne François / Hagen Schulze (Hgg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 3, München: C.H.Beck 2001, 784 S., 86 Abb., ISBN 978-3-406-47224-4, EUR 34,90
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Hans Günter Hockerts / Claudia Moisel / Tobias Winstel (Hgg.): Grenzen der Wiedergutmachung. Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa 1945-2000, Göttingen: Wallstein 2006
Matthias Steinbach: Des Königs Biograph. Alexander Cartellieri (1867-1955). Historiker zwischen Frankreich und Deutschland, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2001
Tim Blanning / Hagen Schulze (eds.): Unity and Diversity in European Culture c. 1800, Oxford: Oxford University Press 2006
Etienne François / Uwe Puschner (Hg.): Erinnerungstage. Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München: C.H.Beck 2010
Olaf Blaschke / Hagen Schulze (Hgg.): Geschichtswissenschaft und Buchhandel in der Krisenspirale? Eine Inspektion des Feldes in historischer, internationaler und wirtschaftlicher Perspektive, München: Oldenbourg 2006
Bereits der Blick auf Familienfotos oder auch die Rückschau auf die eigene Biografie vermitteln rasch eine Ahnung von der Vielfalt und der Unbegrenztheit privater Erinnerungen. Massenhafte Individualerinnerungen dieser Art sind analytisch schwer zu fassen, und sie bilden etwas anderes, ja, sie können sogar im Konflikt mit den Erinnerungen liegen, welche die Herausgeber sowie die Autorinnen und Autoren der dreibändigen "Deutschen Erinnerungsorte" zu ihrem Thema gemacht haben. Denn hier geht es primär um Inhalte und Formen der kollektiven, der nationalen Erinnerung, für die auch heute noch die Forschungsarbeiten von Maurice Halbwachs eine wichtige Grundlage bilden. Die Wiederaneignung seiner Schriften hat maßgeblich dazu beigetragen, dass mittlerweile in vielen Ländern Europas die Erforschung nationaler Erinnerungsorte in Gang gekommen ist. Initialzündend wirkten daneben die von Pierre Nora herausgegebenen Bände zu den französischen "Lieux de mémoire"; aber auch die seit den 1990er Jahren intensiv geführte kulturwissenschaftliche Debatte über kulturelle Gedächtnisformen vermittelte wichtige Impulse. Die "deutschen Erinnerungsorte" können mithin in eine breite Publikationswelle eingebettet werden, die zur Zeit eine Erweiterung auf die Untersuchung "europäischer Erinnerungsorte" erfährt.
Vielleicht lohnt es an diesem Punkt innezuhalten und zu fragen, worin die Leistungen und Potenziale, aber eben auch die Defizite des dreibändigen Unternehmens über die "deutschen Erinnerungsorte" begründet liegen. Welche Erinnerungen werden in den Beiträgen erfasst und welche werden ausgeblendet, ganz zu schweigen von dem "unabsehbaren Kontinent des unbewussten Gedächtnisses", den die Herausgeber ebenfalls erwähnen? Wie steht es um das Spannungsverhältnis von massenhaften Individualerinnerungen und politisch geformten sowie symbolisch inszenierten Repräsentationen des kollektiven Gedächtnisses? Wie werden die Konstitution und der diachrone Wandel von Erinnerungen behandelt? Welcher Methoden bedienen sich die Autorinnen und Autoren?
Der äußere Rahmen des Unternehmens ist rasch geschildert: Aus rund 500 Vorschlägen trafen die Herausgeber eine Auswahl von rund 120 Erinnerungsorten, die ,zeitlich betrachtet, vornehmlich das 19. und 20. Jahrhundert erfassen. Das Projekt ist dank der Mitwirkung von Vertretern unterschiedlicher wissenschaftlicher Fachrichtungen ein im besten Sinne interdisziplinäres geworden, und, was als ein weiterer Vorzug zu werten ist, die Autorinnen und Autoren gehören verschiedenen Nationen und Wissenschaftlergenerationen an. Letzteres ist gerade bei einem Thema wichtig, das Jahrgangsgrenzen für die Bewusstseinsprägung von Wissenschaftlern berücksichtigen muss.
In der Summe ist eine über weite Strecken gut lesbare Sammlung "deutscher Erinnerungsorte" entstanden. Die Essays der drei Bände finden sich unter achtzehn Oberbegriffe mit einer "typisch deutschen Klangfarbe" (20) (etwa Reich, Dichter und Denker, Volk) eingeordnet, deren Anordnung zwar eine freie Assoziation und leichte Querverweise ermöglichen soll, die allerdings zuweilen beliebig wirkt. Dass der "Wandervogel" unter Romantik eingeordnet wird, erscheint legitim, aber genauso berechtigt wäre es gewesen, ihn unter "Freiheit", "Moderne" oder auch "Zerrissenheit" anzusiedeln. An diesem Tatbestand wird gewissermaßen ein spielerisches Element in der Konzeption der "deutschen Erinnerungsorte" ersichtlich, deren "bildungsbürgerliche, westliche und auch berlinerische Prägung" (I, 22) von den Herausgebern selbstbewusst eingestanden wird. Die Kritik mancher Rezensenten an der bildungsbürgerlichen Schlagseite des Unternehmens war daher nahe liegend, aber sie war auch berechtigt, obwohl Ulrich Raulff beklagte, dass selbst die Literatur- und Kunstgeschichte bei der Themenauswahl zu kurz gekommen sei. Noch viel deutlicher jedoch sticht die fehlende Berücksichtigung von Erinnerungsorten der deutschen Arbeiterbewegung hervor (eine Ausnahme bildet Klaus Tenfeldes Beitrag über "Wissen ist Macht"; III, 40-54), denn weder die Märzgefallenen, noch die Lassallefeiern oder der Arbeiterführer August Bebel werden thematisiert. Aber auch die Geschlechterperspektive kommt viel zu kurz (in diesem Zusammenhang ist nur der Beitrag von Sylvia Paletschek über "Kinder - Küche - Kirche" nennenswert). Da im Vergleich zum zentralistisch regierten und verwalteten Frankreich die deutsche Kulturlandschaft regional sehr viel differenzierter ausfällt, hätte dieser wichtige Tatbestand der deutschen Geschichte eine stärkere Berücksichtigung erfahren müssen. Tatsächlich jedoch findet sich nur ein Beitrag von Friedrich Prinz über den "Weißwurstäquator" (I, 471-483), der das Problem explizit angeht.
Schwerwiegender jedoch schlägt zu Buche, dass die ostdeutsche Perspektive der Zeit seit 1945/49 unterbelichtet bleibt, trotz des Anspruchs der Herausgeber, mit den vorliegenden drei Bänden das Zusammenführen ehemals gegensätzlicher Gedächtniskulturen fördern zu wollen (neben der behandelten "Jugendweihe" wären der verordnete oder auch gelebte Antifaschismus und die "Kinderkrippe" denkbare Fallbeispiele gewesen). Jürgen Danyel beklagt in seinem Beitrag über den "20. Juli" sogar die "kulturelle Hegemonie" der westdeutschen Erinnerungskultur, was durch die Anlage der drei Bände eine indirekte Bestätigung erfährt. Was jedoch noch mehr überrascht, ist das unausgewogene Verhältnis von lebendigen und verschütteten Erinnerungsorten sowie von erwarteten und unerwarteten Erinnerungsorten. Warum waren die Herausgeber nicht einfach mutiger, ihre Auswahl näher zu begründen? Das westdeutsche, ja, das westeuropäische "Nein danke", das einer langjährigen Protestbewegung nicht nur als symbolischer Integrationsruf diente, liegt dem Rezensenten in diesem Zusammenhang geradezu auf der Zunge.
Es ist jedoch letztlich müßig, immer wieder fehlende Einträge anzumahnen, statt sich zunächst an die Orte zu halten, die in den vorliegenden Bänden in Erinnerung gerufen werden. Im Einzelnen werden viele spannende und oft auch überraschende Teilergebnisse geboten. Denn wer kennt schon so genau die Verwandlung des "Bamberger Reiters und Uta von Naumburgs" zu den ersten Kultfiguren des modernen Medienzeitalters, die von Wolfgang Ullrich kenntnisreich und plausibel geschildert wird? Und wer weiß schon um die Hintergründe davon, dass erst über die Schützengräben des deutsch-französischen Krieges 1870/71 das weit verbreitete Weihnachtsfest in Deutschland einen Eingang in alle soziale Schichten gewonnen hat? Doris Foitzik berichtet einfühlsam über diesen nicht nur kulturgeschichtlich bedenkenswerten Vorgang. Und wussten wir es wirklich alle so genau, dass sich englische Schmuggler im Ersten Weltkrieg sogar gegen das vorzeitige Ende des Krieges versichern konnten? (Stefan Laube, Die Versicherung; II, 505). An dieser Stelle ließen sich viele weitere Beispiele anführen, die in ihre Gesamtheit eine Art "Kulturbunker" ergeben. Dies ist sicher ein ganz anderer als derjenige, den Stephan Krass am Beispiel des "Oberrieder Stollen" beschreibt, wo vom Bundesamt für Zivilschutz eine "Schatzkammer der Nation" angelegt und für alle erdenklichen Zeiten gesichert wird (III, 651-659).
Viele Aufsätze enthalten außerdem nachdenklich stimmende Ausführungen zur Funktion von Erinnerungsorten für die Geschichte der politischen Kultur in Deutschland, darunter beispielsweise zur Rolle von Flucht und Vertreibung (Eva und Hans-Henning Hahn, I, 335-351). Weiterhin äußert sich Michael Stolleis sehr überzeugend zur Funktion und zum Bild des "Furchtbaren Juristen". Klarsichtig formuliert er, dass sich das Verschwinden der Subjektivität segensreich in rechtsstaatlichen Verhältnissen auswirken, im Zeichen der Repression aber "furchtbare Züge" gewinnen könne (II, 540). Und Bernd-A. Rusinek legt ein methodisch beeindruckendes Stück moderner, ethnologisch inspirierter Geschichtsschreibung über "Wyhl" vor, indem er den Bericht über die Suche des Historikers nach den Orten der Erinnerung in seine Ausführungen einfließen lässt (II, 652-666).
Manche Ausführungen beunruhigen allerdings wegen ihres normativen Anspruchs (Gesine Schwan: Die Deutschen sollten den Begriff des Mitläufers als Erinnerungsort akzeptieren, um "in ihrer Erinnerung und für ihre Identität die Ambivalenz des Mitläuferphänomens zur Warnung und zur demokratischen Neuorientierung zu akzeptieren"; I,669). Manches wirkt eher skurril, etwa da, wo Rainer Moritz den Schlager zum "Mörtel der deutschen Gesellschaft" erklärt (III, 216), während verschiedene Beiträge ihr Thema nicht in der Breite und Tiefe erfassen, wie es wünschenswert gewesen wäre (Olaf B. Rader urteilt mehr lapidar über "Dresden", das es sich hierbei um "ein Erinnerungskonglomerat mit schweren und leichteren Engrammen in das kommunikative und kulturelle Gedächtnis" handele; III, 469). Manche Beiträge bleiben sogar eine Antwort auf die Frage schuldig, warum sie überhaupt zu einem deutschen Erinnerungsort deklariert werden sollen.
Das führt auf die Konzeption der drei Bände zurück, die selbst nach der abschließenden Lektüre keine rechte Klarheit darüber vermitteln, was unter einem Erinnerungsort, geschweige denn einem "deutschen" Erinnerungsort überhaupt zu begreifen ist. Schon die Formulierung im Titel schreibt den Orten eine Qualität zu, die letztlich nur über die Erinnerung von Individuen konstituiert wird. Sind die Erinnerungsorte aber überhaupt deutsch? Oder sind es nicht vielmehr Erinnerungsorte in Deutschland? Oder handelt es sich bei den Fallbeispielen um Erinnerungen von Deutschen an Orte, wo Deutsche gehandelt haben (also auch Auschwitz)? Und steht die Benennung von Auschwitz als eines "deutschen Erinnerungsorts" nicht vielmehr im Widerspruch zu einer heute sich abzeichnenden Universalisierung des Gedenkens gerade an diesem Ort? Die Herausgeber haben ihrem Projekt eine entschieden europäische Ausrichtung geben wollen, und sie wollten Deutschland nicht als eine in sich geschlossene geografische Einheit behandeln, so wie dies Nora in den "Lieux de mémoire" für Frankreich unternommen hat. Das birgt allerdings die Gefahr in sich, auch erinnerungskulturell in ein "Alldeutschland" zu verfallen, das dann an jedem Ort vermutet werden darf, wo - um mit Karl May zu sprechen - "die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder singt". Besser wäre es vielleicht gewesen, die Erforschung nationaler Erinnerungsorte von Beginn an international vergleichend anzulegen, weil letztlich erst auf diesem Weg die spezifische Nationalität der Erinnerung erwiesen werden kann.
Die Herausgeber gehen in ihrer Einleitung etwas leichtfertig über diese Problematik hinweg. Auch die Definition der Erinnerungsorte als "langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität" löst die definitorischen Schwierigkeiten nicht, weil sie für nicht genau bestimmte soziale Gruppen eine Annahme postulieren, die im Einzelfall ebenfalls zunächst nachzuweisen wäre. Es ist daher kein Zufall, dass die abgedruckten Beiträge zwar viel wichtige Vorkommnisse und auch Personen der deutschen Geschichte behandeln. Aber regelmäßig sagen sie nur wenig über die Akteure der Erinnerung und die Art und Weise aus, wie sich Erinnerungen im Einzelnen einstellten und artikulierten. Manche Autoren verzichten sogar darauf, den Begriff der Erinnerung explizit aufzugreifen. Nur wenige problematisieren die Frage nach dem Stellenwert eines Erinnerungsortes, indem sie etwa, wie Otto Gerhard Oexle dies tut, darauf hinweisen, dass Canossa heute nicht länger die Erinnerung an eine historische Episode darstelle, sondern nur noch eine ferne Reminiszenz, mit abnehmender Wirkung im "Zitatenschatz des deutschen Volkes" (I, 67). Auch Gerd Krumeich konstatiert, dass Langemarck keinen lebendigen "deutschen Erinnerungsort" abgibt, sondern mehr als Menetekel eines falschen Bewusstseins begriffen werde (III, 292-309). Die Mehrzahl der abgedruckten Beiträge jedoch entzieht sich der Reflexion auf die Definition ihres Gegenstandes. Gunter Gebauer übergeht sie schlichtweg in seinem Beitrag über die "Die Bundesliga" (II, 450-465), und viele andere streifen sie nur kurz.
Stattdessen kaprizieren sich die meisten Beiträger auf eine mehr oder weniger tiefschürfende Auseinandersetzung mit der Geschichte ihres "Ortes" und seiner Wahrnehmung über eine Abfolge verschiedener Generationen. Dass dies sehr fruchtbar ausfallen kann, zeigt Werner Sudendorf in seinem Beitrag über Marlene Dietrich (II, 620-636), die noch in den 1950er Jahren als Vaterlandsverräterin gebrandmarkt, aber gegen Ende der 1980er Jahre als eine Vertreterin des besseren Deutschland gewürdigt wurde. Die tatsächlich unpolitische Schauspielerin war, wie Sudendorf überzeugend nachweist, die Spiegelfläche von Projektionen ihrer Betrachter.
Ansonsten aber stellt sich bei der Lektüre vieler Beiträge eine gewisse Ernüchterung über eine sich wiederholende "deutsche Geschichte" ein. Denn fast regelmäßig wird zunächst die Erkenntnis von der spektakulären Neuerfindung und Wiederbelebung historischer Orte im frühen 19. Jahrhundert geschildert, so vor allem und ausgezeichnet bei Etienne François in seinem Beitrag über "Die Wartburg" (II, 154-170). Gleichfalls sehr instruktiv berichtet Dirk Schümer über die "Hanse" (II, 369-386), denn das, was man heute unter Hanseherrlichkeit in Deutschland verstehe, wurde erst im 19. Jahrhundert neu und durchschlagend definiert. Oliver Janz zeigt einen ähnlichen Sachverhalt für das Bild vom Evangelischen Pfarrhaus auf (III, 222), dessen Kulturbedeutung erst im 19. Jahrhundert zu einem Topos der historischen Erzählung und des Geschichtsbildes geronnen sei. Und Michael Werner deutet die Ursache für den tiefgreifenden Wandel deutscher Geschichtsbilder im 19. Jahrhundert als Folge der Ablösung der Vorstellung einer homogenen Genese Europas aus der klassischen Antike durch die Annahme einer mehr oder minder konfliktgeladenen Konkurrenz zwischen germanischen und romanischen Nationen (III, 576). Was aber all diese Beispiele zuvörderst zeigen, ist die herausragende Bedeutung der Konstruktionsarbeit älterer Historikergenerationen, die nun in der kritischen Rekonstruktionsarbeit nachfolgender Historikergenerationen eine Fortsetzung erfährt. Zuweilen wird dies sprachlich sehr sperrig gedeutet. Gertrud Pfister etwa spricht über den "Turnvater" Jahn, der "als emotional aufgeladenes, assoziationsreiches System von Symbolen variabel eingesetzt und ausgelegt werden" konnte (II, 217). Das dürfte wohl für fast jede bekannte Persönlichkeit der deutschen Geschichte gelten.
In der Betrachtung der späteren Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, spätestens aber dann, wenn die Phase des Dritten Reiches erreicht wird, fällt in den Artikeln regelmäßig ein düsteres Licht auf die deutschen Erinnerungsorte. Anscheinend, so wirkt es jedenfalls, war das die Zeit der "falschen Erinnerungen". Vielleicht wäre es gerade deswegen an diesen Stellen angezeigt gewesen, die Konflikte zwischen privaten oder so genannten Primärerfahrungen und kollektiv vermittelten Erinnerungen näher zu ergründen, sowohl diachron, für die Zeit zwischen 1933 und 1945, als auch synchron mit dem Blick auf die Nachkriegsepoche. Die mittlerweile mehr als drei Jahrzehnte währende Debatte über die Geschichte des Alltags im Nationalsozialismus, aber auch die heftigen Diskussionen über die "Historisierung" des Nationalsozialismus entzündeten sich nicht zufällig gerade an den Gegensätzen von privater und öffentlicher Erinnerung.
Bei dem Blick auf die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg wiederum mutieren die untersuchten Erinnerungsorte in den Augen vieler Autoren zu einem rein "historischen Fall". Hagen Schulze demonstriert das eindrucksvoll am Beispiel von Versailles, das seit dem Zweiten Weltkrieg hauptsächlich als ein Gegenstand der Geschichtswissenschaft, aber nicht mehr als ein konfliktreicher Erinnerungsort von Deutschen und Franzosen begriffen wird (I, 407-421). Offensichtlich war nach 1945, wie Schulze auch in seinem Beitrag über Napoleon ausführt, der Bedarf an großen Männern gedeckt (II, 28-37). Napoleon wanderte gewissermaßen in dieser Zeit aus den deutschen Geschichtsbildern aus, aber sein Weg steht stellvertretend für viele weitere der hier behandelten Erinnerungsorte.
Politische wichtige Zäsuren, das ahnt man rasch, führen zu einem erheblichen Umbruch der Geschichtsbilder und damit auch der Erinnerung an die mit ihnen verbundenen Orte. Seit 1945 sind offensichtlich neue Fixpunkte, vielleicht auch vermehrt "Ikonen" zum Gegenstand des kommunikativen Gedächtnisses in Deutschland aufgestiegen. An die Stelle der Völkerschlacht und an den Platz von Bismarck rückten, um willkürliche Beispiele zu nennen, Konrad Adenauer, Willy Brandt oder auch der Bau der Berliner Mauer und ihr Fall. Das war nahe liegend, weil es den gelebten Erfahrungen und den mündlich tradierten Erinnerungen der heute Lebenden entspricht. Aber Ernst Hanisch nennt in seinem Beitrag über den Wiener "Heldenplatz" einen weiteren wichtigen Grund für den Wandel: Mit dem Bildungsbürgertum und den kulturbeflissenen Funktionären der deutschen Arbeiterbewegung sind die Hauptträgerschichten der sozialkulturellen Erinnerungsarbeit verschwunden (I, 224), jedenfalls des Typs, der hier vornehmlich behandelt wird.
Was die Essays jedoch nur selten bieten, ist ein Einblick in die Überlagerung von Primärerfahrungen durch immer neue Erfahrungen und neue Erinnerungen. Darüber hinaus berücksichtigen sie zu wenig den Faktor der Generationenzugehörigkeit beziehungsweise der Generationslagerung und Generationseinheit. Einer der wenigen Autoren, der explizit darauf verweist, ist Pierre Aycoberry. In seinem Beitrag "Der Bolschewik" zeigt er auf, wie in der Nachkriegszeit die Erinnerung an die Gewalttaten der Roten Armee bei vielen Deutschen auf verhängnisvolle Weise das Schreckensbild des Bolschewiken wach gehalten und etwaige eigene Schuldgefühle überdeckten konnte (I, 455-470). Aber auch vieles andere wurde und wird verdrängt oder überlagert, manches andere glorifiziert und anderes erst spät wieder reaktiviert. Diesen Fragen nach den synchronen und diachronen Schichten von Erinnerungen muss die Kulturgeschichte detailliert nachgehen, wenn sie nicht auf der Ebene einer primär historiografischen Aufzeichnung von Erinnerungsorten stecken bleiben will.
Im Gesamteindruck der vorliegenden Beiträge wirkt jedoch vor allem der Auszug der Sozialgeschichte bedauerlich. Es ist geradezu frappierend, dass mit Hartmut Zwahr ausgerechnet einer der wenigen ausgewiesenen Sozialhistoriker im Kreis der Autoren in seinem Beitrag über "Wir sind das Volk" an keiner Stelle andeutet, wer das Volk (II, 253-268) in der Bürgerbewegung der DDR war. Stattdessen finden sich bei ihm Aussagen darüber, dass "das Volk" am 9. Oktober die "Hegemonie" im Gesamtgeschehen übernommen habe sowie die Prognose, dass das "Volk" auch in der Zukunft der legitime Akteur bleibe, der "das industrielle Prinzip der Kapitalverwertung um seiner selbst willen in Frage zu stellen vermag" (II, 265). Nun ja, Klassen- und Schichtungskriterien und ihre Bewusstseinslagen werden wohl noch etwas genauer als an diesem Beispiel untersucht werden müssen, wenn die Erforschung der Erinnerungsorte eine fruchtbringende Fortsetzung erfahren soll.
Darüber hinaus wird die zukünftige Forschung über Erinnerungskulturen stärker als im vorliegenden Fall nach den Vorprägungen von Erinnerungen zu fragen haben. Zu diesen Vorgegebenheiten sind die Ideologien, die Generationszugehörigkeit, das Geschlecht und die Familie, die Klasse- und die Schichtenzugehörigkeit sowie politische Organisationen zu zählen. Nicht zuletzt aber über das Medium der Sprache werden Erinnerungen aus dem Unbewussten, vom Nicht-Gesagten, aber auch die bewussten Erinnerungen überhaupt erst an die Oberfläche gebracht und vermittelbar. Zu diesem Medium, das der Erinnerung nicht nur eine Form gibt, sondern über Begriffe, Sprachbilder und die Artikulationsfähigkeit gleichzeitig prägend und begrenzend wirken kann, sind eingehende historisch-linguistische Analysen notwendig. Wenn man dann noch bedenkt, dass alle Menschen mehrere Identitäten besitzen, dann mag die Ahnung einer geradezu unendlichen Zahl von Erinnerungsorten leicht entmutigend wirken. Das sollte jedoch nicht davon abhalten, die Geschichte nationaler Erinnerungsorte tiefer zu ergründen. Die Kategorien aber, derer man sich hierbei bedient, sollten klar benannt werden. Auf diesem Weg ließe sich aus einem aufklärerisch gemeinten "Museum der deutschen Erinnerungsorte" ein kritisches Handbuch zur Geschichte moderner Erinnerungskulturen gewinnen. Die drei Bände der deutschen Erinnerungsorte liefern hierzu eine Fülle von Anregungen.
Christoph Cornelißen