Martin Lenz: Konsens und Dissens. Deutsche Königswahl (1273-1349) und zeitgenössische Geschichtsschreibung (= Formen der Erinnerung; Bd. 5), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 296 S., ISBN 978-3-525-35424-7, EUR 39,00
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Die Fragestellung dieser Gießener Dissertation zielt auf die Feststellung unterschiedlicher Haltungen zur Königswahl in der regionalen Historiografie des späten Mittelalters zwischen 1273 und 1349 ab. Anhand der Geschichtsschreibung in sechs ausgewählten Regionen des Reiches (Köln, Elsass, Magdeburg, Österreich, Bayern und Böhmen) möchte Martin Lenz ergründen, welche Elemente den Verfassungskonsens ausmachten, der das spätmittelalterliche Deutschland zusammenhielt. Konkret hat er dafür die zentrale Institution der spätmittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte, die Königswahl, ausgewählt. Es geht im Wesentlichen um die Überprüfung der Effekte, welche die unterschiedliche Positionierung der einzelnen Landschaften im Hinblick auf das Königtum in der Geschichtsschreibung zeitigte.
Martin Lenz geht davon aus, dass verfassungspolitische Standpunkte in erster Linie historisch legitimiert wurden, und richtet daher sein Interesse auf die Geschichtsschreibung. Man kann in dieser Einschränkung, die von vornherein auf die Einbeziehung zentraler Rechtstexte und einschlägiger Urkunden verzichtet, eine problematische Entscheidung sehen. Die Einengung wird noch dadurch verstärkt, dass er eine vergleichende Untersuchung der regionalen Ergebnisse ausschließt. Die einzelnen Regionen werden jeweils für sich untersucht. Bei einer solchen Voraussetzung ist das Ergebnis, "daß ein Austausch zwischen den einzelnen Räumen [...] in der Geschichtsschreibung ohnehin nur selten nachzuweisen [ist]" (252), nicht wirklich überraschend. Aber ein Autor hat Anspruch darauf, an dem gemessen zu werden, was er selber unternehmen wollte, und da ist zu sagen, dass Martin Lenz ein eindrucksvolles Spektrum von spätmittelalterlichen Geschichtsschreibern zusammengestellt hat, die er in den Anmerkungen ausführlich zu Wort kommen lässt. Stilistisch hat Martin Lenz viel bei seinem Lehrer gelernt und er präsentiert seine Ergebnisse im Stil einer unbefangenen und die Traditionalisten gern etwas provozierenden Souveränität, die auch Peter Moraws Arbeiten immer wieder auszeichnet. Doch gibt es da das eine oder andere Problem. Zunächst wird man wohl sagen müssen, dass Martin Lenz das, was er zu tun angetreten ist - die Haltung der Chronisten zur deutschen Königswahl zu untersuchen -, nicht wirklich verfolgt.
Die Zeit zwischen 1273 und 1349 war die Phase, in der das spätmittelalterliche Wahlverfahren eine verbindliche Form annahm, in der die Zahl der Wähler, die Wähler selber und das Verfahren sich ausprägten, um dann 1356 in der Goldenen Bulle eine rechtsverbindliche Formulierung zu erfahren. Es hätte sich vielleicht empfohlen, den Untersuchungszeitraum bis zur Goldenen Bulle auszudehnen. In den Konflikten um die Königswahlen dieser Periode waren politische Fragen eng mit Rechtsfragen verbunden. Mancher Rechtsanspruch, wie der der Päpste auf die Approbation der Königswahl, hatte einen deutlichen politischen Hintergrund, aber die Konflikte wurden in der Sprache des Rechts, häufig mit Mitteln des Rechts und immer wieder von Vertretern des Rechts ausgefochten. Diese Dimension fehlt in der Untersuchung von Martin Lenz weitestgehend. Das eigentliche Wahlverfahren wird nicht problematisiert, unterschiedliche Berichte werden elegant nebeneinander gestellt, aber eine Problemperspektive eröffnet der Autor nicht. Das gilt sowohl für die verschiedenen behandelten Königswahlen als auch für die dramatische Absetzung Adolfs von Nassau. Über 20 Jahre lang haben die Kurie und Ludwig der Bayer um den päpstlichen Anspruch auf die Approbation der deutschen Königswahl gerungen, und die Anfänge Karls IV. waren von diesem konkreten Anspruch nachhaltig geprägt. Die Diskussion um die Approbation der Königswahl wurde zu einer zentralen Verfassungsfrage und provozierte in der Stellungnahme der Kurfürsten in Rhens 1338 eine Festlegung, die durchaus epochalen Charakter hatte. Martin Lenz fasst das Ergebnis des Konfliktes in die Formulierung einer "konsequente[n] Zurückweisung eines päpstlichen Anspruchs auf die Mitbestimmung im Reich" (100). Das ist jedoch etwas schlicht, und man sollte sich bei komplexen Problemen an die einsteinsche Maxime halten, so weit zu vereinfachen wie möglich, aber nicht weiter. In diesem Fall erfasst die Sprache moderner Betriebsverfassungen dieses spätmittelalterliche Verfassungsproblem nur unzureichend.
Am Beispiel des Rhenser Weistums von 1338 ist noch ein weiteres Problem des Buches zu erkennen. Martin Lenz vermag mit sicherer Eleganz zu formulieren, aber er gibt sich damit zufrieden. Er fragt nicht wirklich nach. Was nicht offensichtlich ist, verfolgt er nicht. Dass der böhmische Chronist Pulkava in seine Begründung der böhmischen Kurwürde eine Urkunde Rudolfs von Habsburg inseriert, in der der König 1290 das böhmische Wahlrecht bestätigte, erscheint dem Autor als eine moderne Legitimierungsstrategie, die durch die Verbindung "zweier Referenzhorizonte" (Vergangenheit und Gegenwart) neben der historischen Begründung auch "den schmalen Ansatz von Staatlichkeit" nutzbar machte, der sich in der königlichen Urkunde anbot (223). Das ist zweifellos schön formuliert, doch ist weniger klar, was es eigentlich bedeutet. Königliche Urkundenverleihungen und -bestätigungen gibt es seit dem frühen Mittelalter. Ist das ein Zeichen von "Staatlichkeit"? Dass solche Urkunden durch Geschichtsschreiber überliefert werden und mitunter nur durch sie, kommt häufiger vor. Bedienten sich dann die einschlägigen Autoren des 12. Jahrhunderts auch einer "modernen Strategie"? Einige Seiten später aber übersieht Martin Lenz ein solches Zitat, da es nicht ausgewiesen ist. Er hebt hervor, dass die Feststellung des Chronisten Benesch von Weitmühl, Rhens sei "der gewohnte Versammlungsort der Kurfürsten" (243), in der untersuchten Geschichtsschreibung singulär sei. Und er schließt daraus, diese Behauptung sei von Karl IV. propagiert worden. Tatsächlich aber findet sich die Feststellung, dass Rhens der Ort sei, an dem die Kurfürsten wichtige Fragen zu besprechen pflegten, im Text des Weistums von Rhens ("ubi principes electores sacri imperii Romani ad habendos tractatus super electionibus aut aliis negociis ipsius imperii solent ut plurimum convenire ..."). Der Frage nachzugehen, ob der Chronist das Weistum kannte, wäre sicher lohnend. Es ist ein zentraler Text für die Reichsverfassung, zumindest im Rückblick. Es wäre hilfreich zu wissen, ob die Zeitgenossen das ebenso sahen. Hier läge eine Spur, der man eventuell mit Gewinn nachgehen könnte.
Die gemeinsame Basis verfassungspolitischer Überzeugungen im spätmittelalterlichen Reich war dünn und das Netzwerk gemeinsamer Überzeugungen nicht sehr kräftig. Aber welche Fäden sich durchzogen, wie diese Überzeugungen quer durch die Regionen transportiert wurden, welche Texte sie tradierten, welche Texte sie rezipierten, das wäre eine Untersuchung, die spannend zu lesen wäre. Sie sollte allerdings auf vorformulierte Grenzen zwischen Regionen und Gattungen verzichten. Eine solche Arbeit hat Martin Lenz nicht vorgelegt. Aber um gerecht zu sein, müssen wir auch feststellen, dass er das nicht vorhatte. Um seine Leistung angemessen zu würdigen, gilt es festzuhalten, dass er eine eindrucksvolle Fülle von Quellen gesichtet und einschlägige Stellen ausgewählt hat - wobei er allerdings fast vollständig auf die Berücksichtigung der einschlägigen Forschungsliteratur verzichtet; diese kommt bei ihm im Literaturverzeichnis, aber kaum in den Anmerkungen vor. Der Text ist weniger eine Untersuchung, als ein elegant verfasster Katalog, der wenig Wert auf eine Profilierung seines Materials legt. Er hat in seiner unbekümmerten Präsentation von einzelnen Funden etwas pointillistisches, aber anders als bei der Betrachtung eines pointillistischen Gemäldes kann der Leser eines Buches nicht einige Schritte zurücktreten, um das Gesamtbild zu erkennen. Dem Leser erschließt sich der Zusammenhang nur in der zeitlichen Abfolge seiner Lektüre. Die Anlage des Buches von Martin Lenz, das reiches Fundmaterial bietet, ist zu fortlaufender Lektüre weniger geeignet. Ein Nachschlagewerk aber benötigt in jedem Fall ein Register und sei es nur ein Namensregister. Das hat der Autor mit Hinweis auf die klare Gliederung des Buches unterlassen. Man wird sich fragen, ob er hier nicht am falschen Ende Zeit gespart hat.
Seinem Ergebnis, dass bei den untersuchten Autoren der Wunsch nach Verfassungsharmonie stärker war als der Konflikt über Verfassungspositionen, wird man sicher mit Sympathie zustimmen. Allerdings ist damit die Frage nicht beantwortet, wie denn ein solcher Konsens am Leben erhalten wurde? Hier bedarf es weiterer Arbeit, welche die Grenzen zwischen Regionen und Textgattungen überschreitet.
Martin Kaufhold