Helga Schultz (Hg.): Preußens Osten - Polens Westen. Das Zerbrechen einer Nachbarschaft (= Frankfurter Studien zur Grenzregion; Bd. 7), Berlin: Berlin Verlag Arno Spitz 2001, 267 S., ISBN 978-3-8305-0261-6, EUR 37,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Matthias Weber (Hg.): Deutschlands Osten - Polens Westen. Vergleichende Studien zur geschichtlichen Landeskunde, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2001
Preußens Osten - Polens Westen: Titel dieser Art haben anscheinend augenblicklich Konjunktur, wie etwa der von Matthias Weber herausgegebene Sammelband "Deutschlands Osten - Polens Westen. Vergleichende Studien zur geschichtlichen Landeskunde" (Frankfurt/M. 2001) zeigt. Sie sind Ausdruck der Tatsache, dass sich immer häufiger polnische und deutsche Historiker zusammenfinden, um die gemeinsame Geschichte auch gemeinsam aufzuarbeiten. Gerade dann jedoch werden die Unterschiede offenbar. Eine der Stärken solcher Aufsatzsammlungen liegt darin, dass sie die gegensätzlichen Auffassungen dokumentieren, ohne den verlogenen Versuch zu unternehmen, diese in einer Synthese einzuebnen. So auch in diesem Band, der Forschungen der Adam-Mickiewicz-Universität Posen und der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) vereinigt und mit dem vor allem beabsichtigt war, jüngere Forscher zusammenzuführen, die "nicht der eingefahrenen Konfrontation deutscher und polnischer Sichtweisen verhaftet sind", wie die Herausgeberin Helga Schultz im Vorwort betont.
Ein hervorstechendes Ergebnis dieses Ansatzes zeigt sich in Arbeiten, die die Spiegelbildlichkeit deutscher und polnischer Bestrebungen im Nationalitätenkampf hervorheben. Sabine Grabowski behandelt in ihrem Beitrag sowohl den Deutschen Ostmarken-Verein als auch die polnische Straż, Gregor Thum zeigt auf, wie die Stadt Breslau von der einen wie von der anderen Seite in Abhängigkeit von der jeweiligen politischen Lage als Bollwerk gegen den Nachbarn fungierte. Allein diese Gegenüberstellungen sind bereits geeignet, plakative, aber traditionell verankerte Vorstellungen von einem aggressiven deutschen Eroberungsnationalismus und einem emanzipatorischen polnischen Befreiungsnationalismus in Frage zu stellen.
Der vorliegende Band begnügt sich jedoch nicht mit der Gegenüberstellung einer polnischen und einer deutschen Sichtweise, sondern er verfolgt mehrere Ziele. Zunächst wird in den Untersuchungen eine bestimmte Region ins Zentrum gestellt, nämlich der Raum zwischen Posen, Berlin und Breslau. Die zumeist jüngeren Autoren verfolgen an einzelnen, konkreten Beispielen, wie sich das Zusammenleben vor Ort gestaltete und veränderte. Als besonders herausgehobenes Fallbeispiel erscheint die Stadt Birnbaum/Międzychód, die gleich von zwei Autoren, nämlich von der Herausgeberin und von Torsten Lorenz, in den Blick genommen wird. Die konkreten Verhältnisse vor Ort stellten sich oft ganz anders dar, als man es nach der Lektüre der "überregionalen" Geschichtsschreibung vermuten würde. Eindrucksvoll deutlich wird dies an den Beiträgen von Tadeusz Janicki und Czesław Łuczak über den Reichsgau Wartheland von 1939 bis 1945, die beide aufzeigen, welche Schwierigkeiten es bei der Gleichschaltung vor Ort angesichts - oftmals allem Nationalitätenstreit zum Trotz - noch immer funktionierenden Nachbarschaftsbeziehungen gab.
Die Wahl einer regionalen Perspektive ermöglicht außerdem Erkenntnisse, die eine auf die Nationalgeschichte zentrierte Betrachtungsweise entscheidend erweitern. Die Behandlung des Posener deutsch-polnischen Kulturlebens bis zum Ersten Weltkrieg in den Aufsätzen von Wolfgang Engeldinger und Thomas Serrier ist ein Beispiel für ein Thema, das in den Forschungen beider Länder auf Grund dieser Betrachtungsweise oft zu kurz kommt. Dabei ist gerade die Posener Gesellschaft in jener Zeit ein ideales Fallbeispiel für die Frage, wie deutsch-polnische Kulturkontakte in dieser Region auf hohem Niveau aussahen.
Ein weiteres Thema, das den Aufsätzen des Bandes gleichsam als Subtext unterlegt ist, ist das der Migration. Über den Grundansatz kann man sich streiten: Ob die Bevölkerungsbewegungen in Richtung Westen seit dem 19. Jahrhundert wirklich als Rückwanderung und somit als eine Art umgekehrter Parallele zur Ostsiedlung des Mittelalters zu sehen sind, überzeugt wohl nur eingefleischte Verfechter dieser These. Interessant und aufschlussreich sind dennoch die hier zu Tage geförderten Ergebnisse, nach denen sich die deutschen Germanisierungsbestrebungen nur als kleiner Damm inmitten einer umfassenden Westwanderung der Großpolen in die wirtschaftlichen Zentren des Deutschen Reiches (Berlin, Ruhrgebiet) ausnehmen. Anhand des Optantenstreits in der erwähnten Stadt Birnbaum/Międzychód vom Jahr 1925 diskutiert Torsten Lorenz die Frage, ob der Begriff Migration nicht eher durch Vertreibung oder sogar "ethnische Säuberung" ersetzt werden sollte - eine Frage, die seiner Ansicht nach nur durch eine Betrachtung auf lokaler Ebene behandelt werden kann. So wird eine Vielfalt neuer Fragen aufgeworfen, wodurch sich der vorliegende Band als sehr fruchtbar für weitere Forschungen erweist.
Rüdiger Ritter