Andrea Griesebner: Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert (= Frühneuzeit-Studien. Neue Folge; Bd. 3), Wien: Böhlau 2000, 350 S., 3 Karten, ISBN 978-3-205-99296-7, EUR 39,80
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Können Wahrheiten konkurrieren? In ihrem Buch über Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert dekonstruiert Andrea Griesebner die Idee von einer eindeutigen "Wahrheit". Sie zeigt, dass die Aufgabe des Gerichts nicht darin bestand, die "Wahrheit" herauszufinden, sondern die verschiedenen Geschichten aller am Prozess Beteiligten zu einer Geschichte zu vereindeutigen. Die Untersuchung beschränkt sich aber nicht auf neue Erkenntnisse hinsichtlich der Funktionsweisen frühneuzeitlicher Gerichtsbarkeit. Die differenzierte mikrohistorisch und geschlechtergeschichtlich informierte Analyse kritisiert darüber hinaus historiographische Ansätze, die - mit ontologisierenden Realitätsbegriffen arbeitend - eindeutige Aussagen (Wahrheiten) über Frauen, Männer und Kriminalität im 18. Jahrhundert treffen.
Ausgangspunkt der Untersuchung ist für Griesebner die aus den neueren Diskussionen in der Geschlechtergeschichte entwickelte Frage: "Wenn Geschlecht vor dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts nicht biologisch-naturkundlich, sondern soziokulturell begründet war, welche Bedeutungen knüpften sich unter diesen kulturellen Rahmenbedingungen an das Frau- bzw. Mannsein?" (11). Andrea Griesebner verfolgt die Idee einer radikalen Historisierung der Analysekategorien wie Klasse, Geschlecht, Religionszugehörigkeit, sexuelle Orientierung und möchte zeigen, wie, wann und wo soziale und kulturelle Ordnungen hergestellt wurden, in welcher Weise und welche Kategorien dafür relevant waren und wie diese voneinander abhingen. Dazu stützt sie sich auf das aus der Geschlechterforschung stammende Konzept der "sozialen Markierungen", mit dem das Prozesshafte und Veränderbare von Kategorien und Ordnungssystemen betont werden soll. Mithilfe von Bourdieus Konzept eines mehrdimensionalen sozialen Raumes, in dem die Gestaltung von sozialen Ordnungen immer wieder neu ausgehandelt wird, kann sie die Vielfältigkeit der Praktiken und die Relationalität der sozialen Kategorien aufzeigen. Die Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf dienen ihr dabei als geeigneter Untersuchungsgegenstand, um ihre theoretischen und methodischen Überlegungen umzusetzen.
Nachdem Griesebner ihre Ausgangsüberlegungen und ihre methodischen Voraussetzungen entwickelt hat, stellt sie in einer historisierenden Weise das damals gültige Strafrecht vor. Besonders hervorzuheben ist ihr Ansatz, das Strafrecht nicht auf eine in der Rechtsgeschichte übliche positivistische Weise zu referieren, sondern seine praktische Umsetzung herauszuarbeiten. Dazu gehört auch, dass Andrea Griesebner die Gerichtsprotokolle, ihre Hauptquellenbasis, ausführlich vorstellt und deren Entstehungsweisen detailliert analysiert. Anschließend nutzt sie ein ungewöhnliches Analyseinstrument. Sie rekonstruiert einen Fall als szenische Darstellung, das heißt, sie setzt die summarischen Verhörprotokolle in wörtliche Rede um. So kann sie veranschaulichen, wie im Gerichtsprozess die vielfältigen Geschichten zu einer eindeutigen Erzählung gemacht wurden. Darüber hinaus gibt sie damit aber auch Einblick in ihre eigene Arbeit mit den Quellen und ruft so einen weiteren Gestaltungsprozess ins Bewusstsein der Leserin und des Lesers. Sie erinnert daran, wie aus Gerichtsprotokollen wiederum Quellen für wissenschaftliche Erzählungen werden. Dieser Teil der Arbeit reflektiert den doppelten Ansatz der Analyse, die Dekonstruktion der Wahrheitsfindung vor Gericht wie auch die Dekonstruktion der Wahrheitsfindung der Historiographie, besonders deutlich.
Die im folgenden Teil vorgestellten Fallanalysen sind nach den thematischen Bereichen Religion, Gewalt, Sexualität und Eigentum über Personen geordnet. Andrea Griesebner stellt insgesamt neunzehn Fälle ausführlich auf jeweils mehreren Seiten vor. Sie rekonstruiert aus den Quellen den chronologischen Verlauf der Geschichte(n) und stellt die verschiedenen Aussagen und Gutachten vor, die während der gerichtlichen Untersuchungen gemacht wurden, einschließlich der der Rechtsgutachter, Bader und anderer Sachverständiger. Dabei geht es ihr darum herauszuarbeiten, welche Praktiken von den Gerichtsmitgliedern als "Malefizverbrechen" geahndet und wie die Strafandrohungen der Gesetzeswerke in der Praxis umgesetzt wurden. Jedoch geht es ihr nicht darum, eine formale Rechtssprechung herauszukristallisieren, sondern darum, die differierenden Deutungsmöglichkeiten und die Praxis des Deutens aufzuzeigen. Aufschlussreich sind beispielsweise die Prozesse bezüglich Kindstötung. Die detaillierte Darstellung der Argumentationen und Deutungen der Prozessbeteiligten ermöglicht es den Lesenden, die Komplexität und Kontextabhängigkeit der zeitgenössischen Vorstellungen von Schwangerschaft, Kindsregungen und Geburt zu erkennen. Nicht jede Frau, die wegen Kindstötung vor Gericht stand, wurde mit drakonischen Strafen belegt, und gelegentlich ist aus den Akten nicht ersichtlich, wie es zu den unterschiedlichen Urteilen kam.
Über den Prozess der Urteilsfindung hinaus lassen sich im Kontext der Frühneuzeitforschungen auch weitere Beobachtungen machen. So scheinen die Fälle aus dem Gewaltbereich dafür zu sprechen, dass unter Männern Waffenbesitz offenbar selbstverständlich war und entsprechend in den Prozessen und Aussagen kaum thematisiert und noch weniger hinterfragt wurde. Andere Fälle verweisen auf die Realitätsmacht, die Gerüchte im dörflichen Zusammenleben entfalteten. Ein wesentliches Ergebnis der Arbeit ist, dass die Definition des Geschehenen nicht nur von der sozialen Stellung der Verdächtigen und Opfer abhing, sondern im Prozess die Bedeutung der sozialen Kategorien überhaupt erst ausgehandelt wurde. Die Lesenden erfahren also keine verallgemeinerten Aussagen über die Definition von "Kindstötung" in der Frühen Neuzeit, sondern ihnen werden Einblicke gewährt, wie unter anderem mit den Ansichten über Schwangerschaften und Blasphemie "gearbeitet" wurde. Hier erweist sich die Stärke der verwendeten methodischen Konzepte sowie der ausführlichen Analyse von Strafrecht und Gerichtspraxis.
Abschließend reflektiert Griesebner die Ergebnisse ihrer Studie im Hinblick auf weiterführende Fragen, insbesondere für die Geschlechterforschung. Sie kritisiert die in der Kriminalitätsforschung oftmals gemachte Unterscheidung zwischen Delinquenz von Männern und Frauen respektive zwischen "männlichen" und "weiblichen" Vergehen als verkürzt und reduziert, da auf diese Weise Geschlecht weder in seinen Interdependenzen beachtet noch nach seinen praktischen Bedeutungen in den jeweiligen Feldern gefragt werde.
Für die Kriminalitätsforschung wegweisend ist meines Erachtens, dass Griesebner darauf insistiert, die in den Gesetzen festgeschriebenen Strafnormen nicht als "Regelstrafe" zu begreifen, sondern als Orientierung für das Gericht. In der Praxis bieten die Gesetze Anhaltspunkte für die Urteilenden. Darüber hinaus machen die in der historischen Kriminalitätsforschung wenig beachteten Gnadengesuche einen wesentlichen Teil der Strafpraxis aus. Ebenso wichtig ist die mikrohistorische Analyse des Geschehens, mit der es Griesebner gelingt, sowohl die sozialen Kategorien - Geschlecht, Stand, Alter und andere - in ihrer Interdependenz zu untersuchen als auch die unterschiedliche Bedeutung der Delikte selbst. Ein auf Praktiken orientierter Ansatz reflektiert nämlich auch, was Griesebner überzeugend darlegen kann, dass Delikt nicht gleich Delikt ist. Wenn die strafrechtliche Praxis erst im dörflichen wie gerichtlichen Feld ausgehandelt wird, so ist auch Kindstötung nicht gleich Kindstötung.
Ein wesentliches Ergebnis der Studie besteht in den Vorschlägen für eine empirische Umsetzung der selbstverständlich klingenden, aber schwer zu realisierenden Erkenntnis, dass Geschlecht zwar einerseits keine hinreichende Ordnungskategorie sein kann, sie aber andererseits notwendig ist. Die Dilemmata einer essentialistisch argumentierenden Forschung dekonstruiert und entsprechende weiterführende Fragen formuliert zu haben dürfte das besondere Verdienst der Untersuchung sein. Eine Rezeption auch jenseits der "frühneuzeitlichen Kriminalitätsforschung" ist der Arbeit daher zu wünschen.
Dietlind Hüchtker