Christoph Bernhardt (Hg.): Environmental Problems in European Cities in the 19th and 20th Century. Umweltprobleme in europäischen Städten des 19. und 20. Jahrhunderts (= Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt; Bd. 14), Münster: Waxmann 2001, 236 S., ISBN 978-3-89325-931-1, EUR 25,50
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Die Umweltprobleme europäischer Städte im 19. und 20. Jahrhundert sind wohl das, was man gemeinhin "ein weites Feld" nennt. Das spiegelt sich auch in diesem Band, der auf die Sektion "Urban Environmental Problems" auf der 4th International Conference on Urban History in Venedig 1998 zurückgeht: Das übliche Problem solcher Sammelbände, die innere Heterogenität, tritt hier besonders stark hervor. Zudem wird die geografische Begrenzung auf Europa gleich im ersten Beitrag suspendiert: Joel Tarr, Doyen der amerikanischen "urban environmental history", schildert in einem souveränen Literaturüberblick die zunehmende Konvergenz von Umwelt- und Stadtgeschichtsforschung in den USA. In seiner Einleitung schwört Christoph Bernhardt denn auch gleich jeder Absicht ab, "die städtische Umweltgeschichte etwa als neue Subdisziplin zu entwickeln" (8). In der Tat: Auch wenn die Aufsätze dieses Bandes überwiegend lesenswert sind - nach tragfähigen thematischen oder methodischen Verbindungslinien sucht man vergebens.
Die zwölf Beiträge dieses Bandes - je sechs in deutscher und englischer Sprache - wurden vom Herausgeber grob chronologisch sortiert. So ist es letztlich Zufall, dass die beiden Aufsätze zum Boden aufeinander folgen. Die Umweltgeschichte des Bodens ist noch weitgehend ungeschrieben, und die beiden Beiträge lassen die Tücken des Themas erahnen. André Guillermes Aufsatz "zur Geschichte industrieller Altlasten in Frankreich" beschränkt sich auf eine ausführliche Darstellung der Transformation des Bodens, schlägt von dort jedoch nicht den Bogen zum sozialen Konflikt. Auch der Beitrag von Sabine Barles über den Pariser Boden tut sich schwer damit, die Interaktion von Mensch und Umwelt in den Blick zu nehmen. Kann die Umweltgeschichte des Bodens mehr sein als eine schlichte Kontaminierungsgeschichte? Barles erwähnt an einer Stelle eine Epidemie in Bordeaux 1805, die auf Tiefbauarbeiten zurückging; solche unerwarteten Feed-back-Prozesse lohnten eine nähere Untersuchung. Geneviève Massard-Guilbauds Aufsatz über Stadtbürger und Umweltverschmutzung im Frankreich des 19. Jahrhunderts, wie viele Beiträge ein "work in progress", schildert nicht nur die im Industrialisierungsverlauf immer vehementer werdenden Klagen der Bevölkerung, er zeigt auch, wie die Bürger "für ihre Klagen Wege benutzten, die ursprünglich nicht dafür gedacht waren" (67). Lesenswert sind auch ihre Bemerkungen zu den quellentechnischen Problemen einer Geschichte der Umweltverschmutzung, die hier mit seltener Offenheit erörtert werden. Der Beitrag von Goddard und Sheail weist am Beispiel von Croydon auf die wenig beachtete Rolle kleinerer, weniger stark industrialisierter Städte für die Entwicklung von Abwassersystemen im viktorianischen England hin, Verena Winiwarter wirbt in ihrem Beitrag für einen kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Zugang zum Wandel des Umgangs mit Wasser und Abwasser.
Einen interessanten Vergleich bietet der Aufsatz von Marjaanna Niemi über die Gesundheitspolitik in England und Schweden zur Zeit der Jahrhundertwende. Im Umgang mit der Tuberkulose zeigen sich bemerkenswerte Divergenzen zwischen den Ländern: Während in Göteborg vor allem auf die Isolierung der Erkrankten in Hospitälern und die Behandlung durch medizinische Experten gesetzt wurde, favorisierte man im britischen Birmingham eine Informations- und "Erziehungs"-Kampagne, die sich insbesondere an Arbeiterfamilien richtete. Mindestens ebenso wichtig wie diese Unterschiede war jedoch die in beiden Ländern identische Konsequenz für den Umgang mit schlechten Wohnbedingungen: Das Projekt einer umfassenden Sanierung der städtischen Wohnbebauung verlor dadurch seine Dringlichkeit. Nach Franz-Josef Brüggemeier, der die aus seiner Habilitationsschrift bekannten Überlegungen zur Zonenplanung präsentiert, diskutiert Simone Neri Serneri die italienischen Versuche, Industriebetriebe und Wohnsiedlungen durch vorausschauende Stadtplanung zu trennen; der von Neri Serneri konstatierte Misserfolg steht in auffallendem Kontrast zu Brüggemeiers Beitrag, der die Zonenplanung im Großen und Ganzen als Erfolgsstory schildert. Nach Elfi Bendikats informativem Beitrag über Verkehrsemissionen in Berlin und Paris zwischen 1900 und 1930 klafft unvermittelt eine Lücke von einem halben Jahrhundert - gezwungenermaßen: Die Luftverschmutzung von Athen, das Thema des abschließenden Beitrags von Papaioannou und Sapounaki-Drakaki, wurde eben erst seit den 1970er-Jahren als Problem begriffen. Die Bilanz ist uneinheitlich: Einerseits wurde das Zentralkraftwerk von Athen im Wahlkampf 1981 kurzerhand abgeschaltet, andererseits erklärte der griechische Umweltminister noch 1986: "We must learn to coexist with the cloud" - offenbar, ohne dass ihn das den Job kostete. Der erstaunlich harsche Kampf gegen industrielle Emissionen wird von Papaioannou und Sapounaki-Drakaki vor allem als Ausweichmanöver interpretiert: Entscheidend war die Bekämpfung der Automobilabgase - und hier kamen die entscheidenden Impulse nach langer Verzögerung von europäischen Instanzen. Ganz nebenbei lässt dieser Beitrag auch erkennen, wie hilfreich es ist, Entwicklungen in Zentraleuropa mit Vorgängen an der Peripherie zu kontrastieren.
Insgesamt bietet dieser Band also eine Reihe interessanter Beiträge, die das Themenspektrum allerdings noch nicht einmal annähernd abdecken. Bedauerlich ist, dass die europäische Dimension hier lediglich aus einer Addition vieler Einzelgeschichten besteht; nur vereinzelt lassen die Beiträge die Vorzüge einer konsequent europäischen Perspektive erkennen. Es handelt sich somit um das klassische Problem des Genretyps Tagungsband: viele interessante Befunde, aber ohne einigendes Band. Einer Sondersteuer auf Tagungsbände würde der Autor dieser Rezension - nicht erst seit dieser Lektüre - mit einiger Sympathie gegenüberstehen.
Frank Uekötter