Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 6: Mittel-, Nord- und Osteuropa, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, 1114 S., ISBN 978-3-412-14799-0, EUR 74,00
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Im Dezember 1997 wurde auf einer Festveranstaltung in den Franckeschen Stiftungen in Halle die Festschrift zum 75. Geburtstag des Historikers Günter Mühlpfordt präsentiert. Sie umfasst vier Bände mit insgesamt etwa 2900 Seiten. Schon mit diesem Umfang dürfte jene Festschrift fast alle Rekorde ihres Genres gebrochen haben. Damit nicht genug: Im Herbst 1999 erschien ein 5. Band (822 S.), und jetzt liegt ein 6. Band mit 1114 Seiten vor, ein 7. Band ist geplant. Dieser soll neben neuen Aufsätzen das dringend notwendige Register zu allen Bänden der Festschrift und das Schriftenverzeichnis des Jubilars, der inzwischen in das 82. Lebensjahr eingetreten ist (!), [1] enthalten. Da aber bereits der 5. und dann der 6. Band als Abschlussbände angezeigt worden waren, erscheint es dem Rezensenten als nicht so ganz sicher, ob mit Band 7 tatsächlich der erwartete Schlusspunkt gesetzt werden wird. Zu bewundern ist jedenfalls die Kraft und Ausdauer des Herausgebers - denn es ist ein Mann, der Slawist Erich Donnert, der die Edition aller bisherigen Bände geschultert hat. Jeder, der auch nur einmal einen Band mit einem oder anderthalbdutzend Aufsätzen herausgegeben hat, besitzt wenigstens eine ungefähre Vorstellung davon, was es heißt, mit hunderten von Beiträgern zu verhandeln.
Die einzelnen Bände tragen programmatische Untertitel (Vormoderne, Frühmoderne, Aufbruch zur Moderne, Deutsche Aufklärung, Aufklärung in Europa), die jedoch nirgends näher erläutert werden, wie es auch an Mitteilungen zur Gesamtarchitektonik des Riesenwerkes fehlt. Da der 5. Band bereits die Überschrift "Aufklärung in Europa" trägt und damit als Abschluss der vorangegangenen Bände erscheint, die zeitlich oder geografisch eingeengtere Themenfelder behandelt hatten, griff man bei dem vorliegenden Band zu der inhaltlich nicht so recht gedeckten Verlegenheitslösung, die geografischen Bezeichnungen Mittel-, Nord- und Osteuropa auf das Titelblatt zu setzen. [2] Einen guten Teil der Autoren kennt man bereits aus den früheren Bänden, wie es die Mühlpfordt-Festschrift überhaupt auszeichnet, dass sie nicht selten zwei, drei und mehr Beiträge aus der gleichen Feder enthält. Der vorliegende Band scheint vor allem auch als Möglichkeit genutzt worden zu sein, Vorträge, die an den verschiedensten Stellen und bei den unterschiedlichsten Anlässen gehalten worden sind, zu publizieren. Ja, eine ganze Tagung zur Entdeckungsgeschichte Sibiriens und des Pazifiks hat hier ihre Akten unterbringen können. Dazu kommen Ergebnisse von Forschungsvorhaben, zum Beispiel des DFG-Projektes "Deutsch-russische Wissenschaftsbeziehungen auf dem Gebiet der Medizin". Die Mühlpfordt-Festschrift hat damit fast den Charakter eines Jahrbuches für frühneuzeitliche Geschichte mit dem Schwerpunkt Wissenschafts-, Kultur- und Literaturgeschichte in Mitteldeutschland gewonnen. Ein solches Periodikum wäre äußerst wünschenswert und notwendig. Die Tatsache, dass es dem Herausgeber anscheinend leicht gefallen ist, immer wieder neue Beiträge zu gewinnen, belegt den Bedarf, der für ein solches Publikationsorgan besteht. Eine Festschrift allerdings kann eine solche Funktion schlechterdings nicht übernehmen. Ihr Sinn besteht bekanntlich darin, dass Kollegen und Schüler den Jubilar mit wissenschaftlichen Beiträgen (möglichst mit einer geschlossenen thematischen Ausrichtung), die aus Anlass des anstehenden Geburtstages geschrieben wurden, ehren und damit die Bedeutung seines Werkes der Öffentlichkeit gegenüber vermitteln. Der Rezensent ist bei aller tief empfunden Hochschätzung, die er für Professor Mühlpfordt hegt, der Auffassung, dass spätestens mit dem 5. Band diese Aufgabe erfüllt worden war. Der neue Band, der ja noch nicht der Letzte ist, wiederholt oft die Themen der früheren Bände; es sind zu einem erheblichen Teil die gleichen Autoren, die zu Wort kommen; viele Beiträge verdanken ihre Existenz, wie schon erwähnt, ganz anderen Anlässen.
Die in der Festschrift versammelten insgesamt 69 Beiträge können hier nicht aufgezählt werden, auch nicht teilweise. Bei aller außerordentlichen Vielfalt der behandelten Themen lassen sich doch gewisse Schwerpunkte erkennen: Herausbildung des Protestantismus, Philosophiegeschichte (besonders im Blick auf Wolff und Kant), Wissenschaftsbeziehungen zwischen Russland und Deutschland, Medizingeschichte, Geschichte der Entdeckungen. Da es sich bei den Autoren in der Regel um ausgewiesene Kenner ihres Faches handelt, sind die Ergebnisse als solide, quellenbezogen und weiterführend zu bezeichnen. Ich nenne als Beispiele nur Beiträge zur Entstehung des Begriffs "Protestanten" (Siegfried Bräuer), zur Theorie der Volksaufklärung (Holger Böning), zur Steuerverfassung in der Oberlausitz (Uwe Schirmer), zur Kantschen Philosophie in Halle (Regina Meyer), zu dem in Jena und Charkow wirkenden Johann Baptist Schad (Volodymyr O. Abašnik) sowie zu den Anfängen einer pharmazeutischen Industrie (Wolfram Kaiser). Die Aufsätze zur Erschließung Sibiriens und des nördlichen Pazifik im 18. und frühen 19. Jahrhunderts bieten mit wenigen Ausnahmen insgesamt wertvolle Ergebnisse zu diesem Forschungsthema, das seit den Neunzigerjahren steigendes Interesse findet. Ob es nicht gerade für diese Beiträge angeraten gewesen wäre, sie separat zu veröffentlichen, statt sie in einer siebenbändigen Festschrift zu "versenken", bleibt dem Urteil des Betrachters überlassen.
Auch der vorliegende Band ist der Gefahr aller Festschriften nicht immer entgangen, jeden eingereichten Beitrag anzunehmen, auch wenn er entweder vom Niveau oder vom gewählten Thema her selbst bei einer großzügigen Betrachtung nicht in das Sammelwerk passte. Anders ist die Aufnahme von Texten, die nicht in ein streng wissenschaftliches Werk gehören, und ein solches möchte eine Festschrift ja sein, nicht zu erklären. Ich nenne einige Beispiele: Auf drei Seiten wird mit einigen handbuchartigen Sätzen "Die Dialektik der europäischen Aufklärung zwischen Pietismus und naturwissenschaftlichem Fortschritt" erläutert, auf knapp fünf Seiten wird in populärer Form das Leben Karl von Linnés geschildert (beide Beiträge ohne jegliche Fußnote oder Literaturangabe). Von einer schon anrührenden Hilflosigkeit zeugt ein Aufsatz über die Probleme einer englischen Übersetzung von Georg Wilhelm Stellers Bericht über seine Reise durch Kamtschatka. Die Autoren entdecken, dass viele deutsche Worte vor 250 Jahren andere Bedeutungen als heute besaßen, das heißt, schlussfolgern sie, "wir können nur raten", was "Steller im Sinn hatte": Meint er zum Beispiel mit dem Begriff "schrauben" das Necken oder das Rollen von Kautabak? Was ist, so eine andere unlösbare Frage, eine "teutsche Meile"? [3]
Anderen Aufsätzen ist ein wissenschaftlicher Charakter sicher nicht abzusprechen, man versteht nur nicht, was sie mit dem Thema "Europa in der Frühen Neuzeit" zu tun haben. Ein extremes Beispiel bietet hier ein 50 Seiten (!) umfassender Beitrag von Aloys Henning "Zur weiblichen Metaphorik des Auges als Angstchiffre in der abendländischen Geschichte", der ins tiefste Altertum zurückgreift und dann ausführlich in das 20. Jahrhundert blickt. Nicht verdeutlicht werden die Gründe für den Abdruck eines Beitrags zur Biografie Johann Friedrich Ernst Albrechts (34 Seiten), nachdem der gleiche Autor zum gleichen Thema zu Band 5 schon einen Aufsatz beigesteuert hatte (ebenfalls 34 Seiten). Bei aller Kritik im Einzelnen vermittelt der Band jedoch insgesamt inhaltlich einen positiven Eindruck. Es bleibt zu hoffen, dass die vielfältigen Ergebnisse dieses und aller anderen Festschriftenbände die Beachtung der Forschung zur Frühen Neuzeit finden, die ihnen zukommt. Das baldige Erscheinen entsprechender Erschließungsmittel (Register, Inhaltsverzeichnisse) würde die Rezeption der für den Einzelnen nicht mehr überblickbaren Stoffmasse sehr erleichtern.
Neben den wissenschaftlichen Beiträgen enthält der Band eine umfangreiche, knapp einhundert Seiten lange, Dokumentation zur Auszeichnung Günter Mühlpfordts mit dem Eike von Repgow Preis und eine ausführliche Danksagung des Jubilars an alle diejenigen, die in dieser oder jener Weise an der Entstehung der Festschriftenbände beteiligt waren. Auch diese Texte bilden einen eindrucksvollen Beleg für die große Anerkennung, der sich Günter Mühlpfordt auf nationaler und internationaler Ebene erfreuen kann. Die Tatsache, dass ihm durch das SED-Regime über Jahrzehnte hinweg die akademischen Wirkungsmöglichkeiten versagt worden sind, kann damit freilich nicht rückgängig gemacht werden.
Anmerkungen:
[1] Der vorliegende Band verzichtet im Vorwort auf einen Hinweis, welchem konkreten Anlass die Entstehung des Werkes zu verdanken ist, nämlich dem 75. Geburtstag des Geehrten; es handelt sich schlicht um die "Festschrift für Günter Mühlpfordt".
[2] Zu Nordeuropa lassen sich einzig und allein bestenfalls zwei Beiträge zu Linné rechnen. Die zahlreichen Aufsätze zur Erforschung Sibiriens und des Pazifiks im zweiten Teil des Bandes lassen sich nur schwer unter dem gewählten Titel subsumieren.
[3] Das sind 7,42 km.
Detlef Döring