Ariane Mensger: Jan Gossaert. Die niederländische Kunst zu Beginn der Neuzeit, 2002, 239 S., 117 Abb., ISBN 978-3-496-01266-5, EUR 64,00
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Diese Monografie, als Dissertation in Heidelberg entstanden, füllt eine Lücke auf dem Buchmarkt, gab es doch seit der revidierten Neuauflage des 8. Bandes von Max Friedländers "Early Netherlandish Painting" (1972) nur noch Aufsätze zu Jan Gossaert. Eine dankbare Ausgangsposition also, die mit einer klar thematisch zugeschnittenen Studie aufgegriffen wurde. Untersucht wird vor allem Gossaerts soziokulturelle Position als Hofkünstler und Auftragsmaler einflussreicher, kulturell avantgardistischer Adelshäuser. Gleichzeitig ist er aber auch selbstbewusster Vertreter einer Kunstlandschaft, deren Stil bereits seit dem 15. Jahrhundert ein etabliertes Markenzeichen darstellt. Die stilistische und thematische Vielfältigkeit seines Gesamtwerkes, die nicht anhand von biografischen Umbrüchen wie seiner Italienreise in eine stringente Ordnung überführt werden kann, klärt sich tatsächlich unter dieser Perspektive, die auch Funktion und Kontext der Bilder mit einbezieht. Am Beispiel von Gossaerts Gemälden wird auch der schon früher begonnene, nun aber mit aller Macht sich vollziehende Wandel vom funktionalen Bild zum (durchaus auch funktionalen) Kunstwerk ins Visier genommen.
Zu Beginn versucht Mensger, die traditionellen Aspekte in Gossaerts Werk genauer zu bestimmen und Archaismen auf ihre Funktion hin zu befragen. In der Kunstgeschichtsschreibung ist es seit etwa 1550 (Guicciardini) üblich, die Einführung der italienischen Manier mit ihrer Orientierung an der Antike dem Mann aus Maubeuge im Hennegau zuzuschreiben. Dennoch weist auch sein Werk einen Stilpluralismus auf, was teilweise bis in die vermischte Ornamentik einzelner Bilder hinein verfolgt werden kann. Mensger führt überzeugend aus, dass Gossaert mehrere Stilmodi nebeneinander verwendet und diese bewusst einsetzt, je nach Funktion und anvisierter Käuferschaft des Werks. So ist das von einer hypertrophen Baldachinstruktur dominierte Malvagna- Triptychon (Palermo) als intentionale Übernahme eines konservativen Brügger Stils zu betrachten, um so mit einem "lokaltypischen Produkt [...] auf dem stetig wachsenden Kunstmarkt Position zu beziehen" (27).
Mensger macht feine Unterschiede und trennt die umfängliche Auseinandersetzung Gossaerts mit Jan van Eyck von den vorherigen Darlegungen zu seiner konsequenten Anwendung eines lokaltypischen Stils. Dieser war traditionell verwurzelt, aber zeitgemäß, während das Kopienwesen als eigenständiges Phänomen im Rahmen eines verbreiteten "Stil-Archaismus" vorgestellt wird. Am Beispiel Gossaert weist die Autorin verschiedene Strategien nach, die der Künstler mit seinen Neuformulierungen bekannter Werke verfolgt. So wird seine Deesis (Madrid) überzeugend als der Versuch interpretiert, sich im Rückgriff auf ein Vorbild religiöser Seriosität der vorreformatorischen Bilderkritik zu entziehen. Die Schwellenzeit der zunehmenden Artifizialisierung bedingt Rückgriffe da, wo man es ernst meint, wo noch die "Ikone" gefragt ist. Andere Beispiele belegen, dass nicht nur der Bezug zum Urheber (van Eycks Bilder waren natürlich auch als Sammlerstücke gefragte Ware), sondern auch zum ursprünglichen Stifter eines Werkes eine erwünschte Konnotation war.
Ein erstes Auftauchen renaissancehafter Formensprache, noch im Verbund mit spätgotischen Formen, konstatiert Mensger in Gossaerts Prager Lukas-Madonna. Dieses Bild wird seinem Sonderstatus als Selbstdarstellung einer Malergilde eben durch jene Durchmischung und Vorführung einer breiten "Palette an Ausdrucksformen" (67) gerecht. Eine implizite Hierarchie oder sonstige inhaltliche Ausdeutbarkeit der Stildifferenzen lehnt Mensger ab und konzentriert sich - wie auch an anderen Stellen des Buches - mehr auf die Verbindungen zwischen Gestaltung und soziokulturellem Kontext. Auch eine inhaltliche Interpretation der neuen, konsequenten Anwendung der Zentralperspektive (alle Fluchtlinien enden in einer zweiten Marienfigur im Hintergrund) wird nur angedeutet. Man bedauert dies, aber es verleiht dem Buch andererseits seine besondere Geschlossenheit und thematische Konsequenz.
1516 malt Gossaert "die erste große mythologische Komposition mit Aktfiguren und rein antikischer Architektur nördlich der Alpen" (73), seine Darstellung von Neptun und Amphitrite. Mensger wendet sich gegen die früheren Versuche, Gossaerts abrupte Einführung eines konsequent antikischen Stils mit einem direkten Einfluss Jacopo de' Barbaris zu erklären. Vielmehr sieht sie in der starken Einbindung in die Hofhaltung Phillips von Burgund den eigentlichen Anstoß. Phillip und dessen Sekretär Gerardus Geldenhauer werden als die humanistischen Köpfe hinter Gossaerts Innovationen gesehen. Dieser Gedanke ist nicht gänzlich neu, aber es ist der zentrale Verdienst der vorliegenden Arbeit, den Einfluss dieses Umfelds mit seinem gewandelten Kunstverständnis im Hinblick auf Stilfragen, Themen und eine Erweiterung der Gattungen zu rekonstruieren.
Während Friedländer über Gossaerts Werke dessen wenig schmeichelhaften Charakter rekonstruieren wollte, führt Mensger die Bilder auf das Milieu im Dunstkreis eines Fürsten zurück, der einen Renaissancehof nach italienischem Vorbild einrichtete und ein ausgewiesener Liebhaber der Antike war. Die Anekdote bei van Mander, nach welcher der Künstler bei einem Besuch des Kaisers durch ein auffälliges, Damast imitierendes Papierkleid von sich reden machte, verdeutlicht hier den Unterschied: Friedländer liest Eitelkeit und Geltungsdrang heraus, Mensger versteht einen solchen Auftritt als Beleg dafür, welches Maß an Extravaganz und Originalität von einem guten Hofkünstler erwartet wurde. Analog zu Martin Warnkes Ausführungen zum Hofkünstler herrschte am Hof auch nach Mensger eine Sphäre künstlerischer Freiheit, ja geradezu ein "impliziter Druck": "Er [Gossaert] mußte auf neue Strömungen reagieren, oder besser noch, sie selbst initiieren" (86).
Neben den Vorlieben und dem kulturellen Ehrgeiz Phillips gab es aber auch noch funktionale Aspekte, die eine klassizistische Formensprache erforderten. Ausgehend von einem Selbstverständnis der Habsburger als Nachfolger der römischen Kaiser bildete sich eine antikische Herrscherikonographie heraus, die sich rasch ausbreitete. Unter diesem Blickwinkel werden Entwürfe für einen Triumphwagen, aber auch ein Porträt des dänischen Königs und ein Grabmal von dessen Frau interpretiert.
Wiederum in der Sphäre um Phillip von Burgund, aber auch dessen Landesherrin Margarete verankert Mensger eine Aufwertung der Malerei als eine der Poesie gleichgestellte Tätigkeit. Dieses neue Kunstverständnis wird mit denjenigen Bildern in Verbindung gebracht, in denen Gossaert erstmals in den Niederlanden Themen der antiken Dichtung mit Aktfiguren einführt. Solche "poesie con figure nude", wie sie Guicciardini nennt, entpuppen sich jeweils als "erotisches Kabinettstück in antikem Gewand" (112). Ambivalent erscheinen die moralischen Untertöne, die alle Exponate - mehr oder minder explizit - noch aufweisen, stehen sie doch im Widerspruch zum offensichtlichen Appell an die Schaulust des Betrachters. Bei den extremsten Beispielen erkennt die Autorin in der sinnlichen Stimulation nicht nur Selbstzweck, sondern einen impliziten Paragone: "Das Potential der Bilder, die Sinne des Betrachters zu erregen, steht als Beweis für ihre mimetische Leistung und kann als Qualitätsmerkmal im Wettstreit mit der Antike aufgefasst werden" (190).
Um den Kontext zu beleuchten, in dem diese neue Art von Bildern entstand, führt Mensger in die Struktur und das implizite Kunstverständnis der großen niederländischen Sammlungen jener Zeit ein. Auch Gossaerts christliche Motive, die er durch die Darstellung der Figuren als Akte in die Sphäre der antiken Gottheiten und Exempla- Figuren überführt, werden verstanden als Reflex auf einen neuen säkularen Kunstbegriff, der sich in den Sammlungen entwickelt. So weisen die durchaus erotischen Darstellungen von Adam und Eva die gleiche Kluft zwischen Anspruch und Erscheinungsbild auf wie die Mythenbilder. Auch Veränderungen des Porträts und seiner Untergattungen werden am Beispiel Gossaert demonstriert (beziehungsweise als von ihm geprägt erkannt) und auf das gewandelte Kunstverständnis bezogen. Den Abschluss bildet eine überzeugende Analyse des Wiener Lukas-Bildes. Künstlerisches Selbstverständnis und die heikle Frage nach dem religiösen Bild zur Zeit der Reformation werden hier offenbar.
Die flüssige, nie sperrig wirkende Sprache sowie die kurzen, geradezu didaktisch arrangierten Kapitel mit den perfekt eingebundenen Schwarz- weiß- Abbildungen richten sich offensichtlich auch an eine interessierte Laienschaft. Auf allzu provokante Thesen oder theoretische Grabenkämpfe in den meist sehr kurz gehaltenen Endnoten wurde verzichtet. Erkauft ist die erstaunliche thematische Kohärenz und Flüssigkeit der Argumentation mit der bereits angemerkten bewussten Beschränkung des Interesses. Der Leser hat häufiger das Gefühl, man hätte tiefer in die inhaltliche Analyse der Werke eindringen und vielleicht sogar, so bei der Prager Lukas-Madonna, weitere Erkenntnisse gewinnen können, die sich durchaus in die Fragestellung eingefügt hätten.
Marius Rimmele