Andreas Mehl: Römische Geschichtsschreibung. Grundlagen und Entwicklungen. Eine Einführung, Stuttgart: W. Kohlhammer 2001, 232 S., ISBN 978-3-17-015253-3, EUR 22,80
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Nach einer Gliederung seines Buches in der Einführung stellt Mehl seine Grundprämissen im 1. Kapitel vor: Die römische Geschichtsschreibung sieht er von Beginn an von der griechischen Literatur vorgeprägt. Da Geschichte oft als Argument gebraucht wurde, folgte ihre Darstellung notwendigerweise den Regeln der Rhetorik. Mit dem Umstand, dass in der Republik wie in der Kaiserzeit die Geschichtsschreiber fast ausnahmslos aus dem Senatorenstand stammten, erklärt Mehl die standesspezifischen Perspektiven und Einseitigkeiten der Historiographie. Sie spiegelt als solche auch scharf den Konsens oder Dissens über die grundlegenden Werte der Gesellschaft wider (29).
Detaillierte Quellenforschung stellte die Ausnahme unter den antiken Geschichtsschreibern dar; vielmehr haben sie größte Mühe auf die rhetorisch-stilistische Überarbeitung ihrer jeweiligen Vorlagen verwendet, sodass "regelrechte Ketten gleicher Darstellung und ebenso gleicher Deutung" (32) entstanden sind. Dabei betont Mehl völlig zu Recht, dass "der antike Historiker [...] einen bisweilen fast aussichtslosen Kampf mit einer lückenhaften und oft auch noch widersprüchlichen Überlieferung führen musste und von daher zu eher laxem Umgang mit den ihm vorliegenden Überlieferungsbruchstücken geneigt sein konnte" (33).
Im 2. Kapitel über die Traditionen der republikanischen Führungsschicht unterschätzt Mehl die Bedeutung der geschichtlichen Überlieferung innerhalb der adligen "gentes" sowohl für diese selbst als auch für das kollektive Gedächtnis der Römer insgesamt. Die ausschließliche Konzentration der "pompa" und der "laudatio funebris" auf die Amtsträger bleibt ebenso unerwähnt wie die entscheidende Funktion der "imagines" bei der Bewahrung historischen Wissens. [1] Mehl betont hingegen zu Recht den fiktionalen Charakter der "Annales Maximi" des P. Mucius Scaevola.
Im 3. Kapitel zur Älteren Annalistik ist der Übergang der ursprünglich griechischsprachigen Geschichtsschreibung der Römer zum Lateinischen jedoch weniger als Rückkehr zu ihrer ursprünglichen Bestimmung, "der Selbstfindung und Selbstidentifizierung des Römers in Sippe und Gemeinde" (49), denn als Antwort auf die fortschreitende Unterhöhlung der Homogenität der Nobilität im 2. Jahrhundert vor Christus zu verstehen. Bei der Besprechung der republikanischen Historiographie rächt sich Mehls Ansatz, deren Entwicklung lediglich als literarischen Prozess zu sehen. Sein Versäumnis, diese als Reflex auf die gravierenden Umwälzungen in der Oberschicht zu begreifen (die Ausführungen auf Seite 60 bleiben zu oberflächlich), tritt bei Cato (50-54) deutlich zu Tage: Denn dessen Neuerungen - Übergang zum Lateinischen, das von Mehl nur en passant erwähnte (53) Verschweigen der Namen der Römer, die scharfe Sittenkritik, die Betonung Italiens gegenüber Rom und die Wendung vom annalistischen zum sachthematischen Aufbau - sind als Mittel zu erklären, mit denen Cato die geschichtliche Erinnerung dem Monopol einzelner "gentes" entreißen und zum Gemeingut aller Römer machen wollte. Auch die seit Calpurnius Piso und Poseidonios aufgeworfene Frage nach dem Umschlagpunkt, an dem der moralische Verfall der Römer eingesetzt habe, ist weit mehr als ein wiederkehrendes literarisches Motiv (82 f.), sondern zeugt von der Suche nach dem Beginn und den Ursachen des Auseinanderbrechens der inneraristokratischen Geschlossenheit.
Dass nach Kapitel 4 der Verlust der "ideelle[n] Geschlossenheit" in der römischen Republik mit dem Eindringen relativistischer griechischer Philosophie nach Rom in Zusammenhang gebracht werden kann (61), überzeugt nicht wirklich. Zwar konstatiert Mehl zu Recht: "So wie die römische Republik in vielen kleinen Schritten in eine faktische Monarchie überging, erfolgten auch schrittweise Veränderungen in der Geschichtsschreibung" (85), doch bleibt er deren Nachweis insbesondere für die ersten Phasen der späten Republik schuldig. Auch vermisst der Rezensent bei der knappen Besprechung des antiquarischen Schrifttums (87) einen Bezug zur Krise der historischen Erinnerung in Rom (vergleiche Cic. acad. post. 1,9).
In Kapitel 5 über das Augusteische Rom werden zum Geschichtswerk des Livius ausführlich Spekulationen über dessen nicht erhaltene Partien und sein Verhältnis zu Augustus angestellt (89-94), während wir nur wenig über die Leitmotive in den überlieferten Büchern oder deren Bedeutung für die historische Rekonstruktion der frühen und klassischen Republik erfahren.
Mit der in Kapitel 6 und 7 behandelten Geschichtsschreibung der Kaiserzeit steigt das Niveau der Darstellung deutlich an, da Mehl in viel stärkerem Maße deren politische Rahmenbedingungen berücksichtigt hat als für die Republik. Ein großer Vorzug seines Buches ist die Einbeziehung der griechischsprachigen Historiographen der Kaiserzeit, die ja ebenfalls aus der Führungsschicht des "Imperium Romanum" stammten und dessen Werden beschrieben. In zwei übergreifenden Abschnitten, die zu den besten des Buches gehören, zeigt Mehl, dass das Informationsmonopol des Kaisers und die fehlende Übersicht über das Geschehen im Reich die Geschichtsschreibung zu einer Kaisergeschichte werden ließen, die sich vor allem in Spekulationen über die Motive des Herrschers erging. Gerade die daraus resultierende moralische Bewertung der Kaiser lässt Mehl in der Kaiserzeit den Höhepunkt der römischen Historiographie erkennen, den er über die literarischen Qualitäten definiert (111). Nach dem Ende der senatorischen Geschichtsschreibung alten Schlages (spätestens mit Cassius Dio), deren Autoren im Dienste des Kaisers zivil und militärisch tätig gewesen waren, suchten die Senatoren, nun reine Zivilbeamte, mit der Feder vor allem den wachsenden Einfluss des Militärs auf den Kaiser zurückzudrängen (113 f.).
Da Tacitus, Sueton und Cassius Dio auf dieselben frühkaiserzeitlichen Quellen zurückgegriffen haben, vergleicht Mehl diese drei (145 f.). Eine bemerkenswerte Interpretation der "Historia Augusta" bietet Mehl (147-152), wenn er ihr geistreiches Spiel mit historiographischen Konventionen - so die Berufung auf fiktive Gewährsmänner - als Persiflage entlarvt. Für seine der "communis opinio" widersprechende Behauptung, die "Synkriseis" der Biografien stammten nicht von Plutarch selbst (158), sollte man aber einen Nachweis erwarten.
Im 7. Kapitel betont Mehl die große Kontinuität der christlichen Geschichtsschreibung gegenüber der heidnischen, welche ja die Bewertungen der Herrscher schon vorgeprägt hatte (170 f., 187). Der Anschluss an die Vorgänger gelang umso leichter, als auch die Christen das "Imperium Romanum" - zumal nach dem Sieg des Christentums - als gottgewollt und den Kaiser als göttliches Werkzeug verstanden (Eusebios, Orosius) und überdies beanspruchten, die alten Werte, die Rom groß gemacht hatten, besser zu verkörpern als die Heiden (29).
Im letzten Kapitel fasst Mehl "Einige Grundlagen antiken Geschichtsdenkens" zusammen: Die antike Geschichtsschreibung erklärt Handlungen nach dem "einfachen Muster personenbezogener moralischer Verursachung" (202). Sie konstruiert Vergangenes als "stehendes Bild" ohne Tiefendimension; die Gegenwart erscheint nur als Wiederholung des Früheren (204). In diesem vergangenheitsorientierten Denken kann Veränderung nur Verfall bedeuten. Demgegenüber war die teleologische Geschichtsdeutung der Christen weit optimistischer; beide Auffassungen konvergieren jedoch in der Überzeugung, dass mit dem "Imperium Romanum" der Schlusspunkt der Menschheitsgeschichte erreicht war. Nicht zuletzt deshalb hält Mehl "die Annahme grundsätzlicher Veränderung von Geschichtsdeutung in der Antike" für "trügerisch" (208). Überhaupt betont er in seinem Buch weit stärker die Kontinuitäten nicht nur innerhalb der römischen, sondern der antiken Geschichtsschreibung insgesamt als die Brüche, die ein stärkerer Vergleich der kaiserzeitlichen mit der republikanischen und auch der des klassischen Hellas hätte zu Tage fördern können.
Das Buch wird ergänzt durch eine Zeittafel zur römischen Geschichte (209 f.) und ein ausführliches Literaturverzeichnis. Darin ist besonders das Verzeichnis der Textausgaben, Übersetzungen und Kommentare von historiographischen Werken (211-214; für Cassius Dio vermisst man die fünfbändige Übersetzung von O. Veh 1985-1992) sehr nützlich. Die sinnvoll ausgewählte Fachliteratur (215-223) ist übersichtlich nach Kapiteln aufgeführt. Einen schnellen Zugriff auf die Historiographen und zentrale Sachbegriffe ermöglicht schließlich das Register (230-232).
In den griechischen Zitaten finden sich - im Gegensatz zum sonstigen Text - jedoch leider zahlreiche Druckfehler (so in Anmerkung 59 auf Seite 228).
Insgesamt bietet Mehls Buch für das Zielpublikum - Studierende mit altphilologischem Schwerpunkt - mit seinen Übersichten über Leben und Werk der einzelnen Autoren insbesondere für die Kaiserzeit eine fundierte und lesenswerte Einführung in die römische Ausprägung der Literaturgattung Geschichtsschreibung.
Anmerkung:
[1] Vergleiche Wolfgang Blösel: Die memoria der gentes als Rückgrat der kollektiven Erinnerung im republikanischen Rom, in: Ulrich Eigler u.a. (Hrsg.): Formen römischer Geschichtsschreibung von den Anfängen bis Livius, Darmstadt 2003, S.53-72.
Wolfgang Blösel