Alfred Cohn: Erinnerungen an Bromberg. [Wspomnienia o Bydgoszczy.] Hrsg. von Elżbieta Alabrudzińska und Barbara Janiszewska-Mincer, Toruñ: Wydawnictwo Adam Marszałek 2002, 202 S., 9 Abb., ISBN 978-83-7322-103-1, EUR 19,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Das Buch richtet sich nicht nur an polnische, sondern vor allem auch an deutsche Leser, weil die Erinnerungen des 1901 in Bromberg geborenen Alfred Cohn im deutschen Originaltext wiedergegeben werden. In ihrer in polnischer Sprache verfassten Einleitung - hier hätte sich eine Übersetzung ins Deutsche empfohlen - stellen die beiden Herausgeberinnen die zu den deutschen Juden gehörende Familie Cohn näher vor. Hier ist der Hinweis wichtig, dass gerade die städtischen Juden im preußischen Teilungsgebiet Polens eine enge Bindung an die deutsche Nationalität hatten, was sich im Gebrauch der deutschen Sprache und der Wahl deutscher Parteien dokumentierte, während die Polen die Polenpartei im deutschen Reichstag favorisierten. Aufschlussreich ist die Bemerkung, der deutsche Patriotismus der Juden habe eine feindselige Einstellung ihnen gegenüber in der polnischen Gesellschaft hervorgerufen, während von einem Antisemitismus moderner Prägung nicht die Rede sein könne. Die als Kennerinnen der religiösen und nationalen Verhältnisse der Bromberger Bevölkerung ausgewiesenen Herausberinnen betonen, dass nach dem Ersten Weltkrieg die Mehrheit der Bromberger Juden - sie machten im Jahr 1910 2,3 Prozent der städtischen Einwohner aus - für das Deutsche Reich votiert und zusammen mit der deutschen Bevölkerungsgruppe die Brahestadt verlassen habe. Dafür kamen Zuwanderer aus dem früheren Kongresspolen nach Bromberg, darunter auch Juden, die sich nicht als Deutsche fühlten und den Charakter der Bromberger Judenschaft veränderten.
Die im Mittelpunkt des Buches stehende Familie Cohn entschloss sich 1920 zur Umsiedlung nach Berlin. Ihr Schicksal im Dritten Reich ähnelt dem vieler anderer jüdischer Familien, indem sie zum größten Teil im Vernichtungslager Theresienstadt ein grausames Ende fand. Nur Alfred Cohn überlebte den Terror und zog mit Frau und Tochter nach dem Krieg nach Breslau, wo er 1961 infolge eines auf ihn verübten Raubüberfalls starb. Hier verfasste er seine die Jahre 1901-1920 betreffenden Erinnerungen in Anlehnung an ein Tagebuch, das er seinem Vater Rudolf zum 67. Geburtstag gewidmet hatte und das 1945 während der Kämpfe um die Festung Breslau verbrannte.
Der Text der Aufzeichnungen wird in übersichtlicher Gliederung und gut lesbarer Form wiedergegeben. Er vermittelt viele bisher unbekannte Informationen über Bromberg vor und während des Ersten Weltkriegs und insbesondere über die dortige jüdische Bevölkerungsgruppe. Einbezogen in die Darstellung werden auch die Verhältnisse des Bromberger Umlands, vor allem in Krone an der Brahe, von wo die Familie Cohn 1900 in die Brahestadt gezogen war, um dort ein Eisenwarenfachgeschäft zu eröffnen. Des weiteren geben die "Erinnerungen" Einblicke in das Verhältnis der Bromberger Juden zu ihrer Religion. Die Assimilation von Alfreds Vater hatte so große Fortschritte gemacht, dass er selbst am Sabbat in seinem Geschäft arbeitete, was auch für viele andere Mitglieder seiner Glaubensgemeinde galt, sodass die Synagoge nur an den hohen jüdischen Festtagen wirklich gefüllt war. Das bedeutete aber nicht, dass sich die Mitglieder der jüdischen Gemeinde völlig von ihren kulturellen Wurzeln entfernt hätten. So übten die jüdische Schule, in der Unterricht in der hebräischen Sprache und im israelitischen Kultus erteilt wurde, wie auch das humanistische Gymnasium in Bromberg, das ganz überwiegend von Christen besucht wurde, in gleicher Weise nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung des jungen Alfred aus. Auf diesem Bildungsweg waren viele Angehörige des assimilierten Judentums zu überzeugten preußischen und deutschen Staatsbürgern geworden.
Am Beispiel Alfred Cohns, der nach der Schulzeit Medizin studierte, wird die weitgehend leidenschaftslose Betrachtung der Alltagsverhältnisse in Bromberg aus jüdischer Sicht transparent gemacht. Seine Erinnerungen lassen keine wirklichen Spannungen im Zusammenleben der Deutschen, Polen und Juden in der Brahestadt erkennen. Hinzuzufügen ist, dass vor dem Ersten Weltkrieg die meisten Einwohner Brombergs zur deutschen Nationalität gehörten, während im benachbarten Posen der polnische Bevölkerungsteil überwog. Dieser Umstand mag Alfreds Bindung an die deutsche Sprache und Kultur noch verstärkt haben. Interessant wäre die Antwort auf die Frage, wo er polnisch gelernt hat. Darüber schweigen sich seine "Erinnerungen" aus.
Stefan Hartmann