Birthe Kundrus (Hg.): Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt/M.: Campus 2003, 327 S., 33 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-37232-7, EUR 34,90
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Längst hat der "cultural turn" auch die Kolonial- und Überseegeschichte erreicht, mitunter firmierend unter der Bezeichnung "Postcolonial Studies". Nicht mehr primär Herrschaft und Wirtschaft stehen im Vordergrund des Interesses, sondern die Binnensicht von Kolonialismus und Imperialismus, was gleichzeitig den Blick zurück auf die kolonialen Metropolen lenkt. Themen wie Rassismus und Exotismus, Kultur(en)begegnung und Fremdensicht (Imagologie), Raumerfahrung und Kolonien als Experimentierräume sowie neu entdeckte Nachbardisziplinen wie die Literatur-, Medizin-, Geschlechter- und Kunstgeschichte sind vorherrschend geworden gegenüber dem peripherieorientierten "impact on the spot". Weniger die Kolonisierten als vielmehr die Kolonisierenden, ihre Wünsche, Hoffnungen, Wahrnehmungen, Erwartungen, aber auch Ängste und Traumata im Hinblick auf die koloniale Zwangsglobalisierung bestimmen vorliegenden Sammelband, dessen Themenbereich sich zeitlich vom Beginn der deutschen Kolonialdiskussion in den 1840er-Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum definitiven Ende aller "Kolonialträume" nach Stalingrad erstreckt. Kundrus stellt ihre konzise Einleitung denn auch unter ein Zitat Caprivis, der Kolonien einmal als "Kinder des Gefühls und der Phantasien" bezeichnete.
Ihr eigener Beitrag gilt dem eigentlichen Hauptthema des Bandes, dem Rassismus. Sie knüpft dabei an ein bereits älteres, DDR-marxistisches Axiom an, das die kolonialen "Mischehenverbote" der Jahre 1905/1912 als Vorläufer der NS-Rassengesetze sah. Abgesehen davon, dass ein "Rassenmischehengesetz" im Kaiserreich nie verabschiedet - sogar abgelehnt - wurde und die diesbezüglichen deutschen kolonialpolitischen Konzeptionen durchaus Parallelen und Vorbilder in den Kolonial- und Apartheidsbestimmungen anderer Kolonialmächte besitzen, unterschieden sich die rassistischen Feindbilder in Kaiserreich und Drittem Reich auch rechtsformal und rechtswirklich. Ihr beachtenswertes Fazit: "Berücksichtigt man alle diese Übereinstimmungen und Differenzen in Ideologie, Gesetzgebung, Verfolgungspraxis, Staatsverfassung und Raumkontexten, dann war der Weg von Windhoek nach Nürnberg weit, sehr weit" (126).
Um Kontinuität und Diskontinuität geht es auch Christian Geulen, wenn er die Auswirkungen des Schritts vom territorial und politisch-kulturell eng begrenzten deutschen Nationalstaat zum "völkischen", ins Globale erweiterten "Rassenkampf ums Überleben" (einschließlich der völligen Indifferenz gegenüber den Kolonisierten) bei Carl Peters und den Nationalsozialisten untersucht. Hier liegt in der Tat ein Kontinuitätsstrang - im Sinne von Thomas Nipperdey - deutscher (Kolonial-)Geschichte. Themen zur Frauen- und Geschlechtergeschichte (Lora Wildenthal, John K. Noyes) stehen ebenfalls unter rassenpolitischen Aspekten, die zeigen, dass die Prämissen von "Rasse" und "weißer Suprematie" selbst gegenüber ansatzweisen Emanzipationsprozessen im Ideal der "treudeutschen Gefährtin" erhalten blieben.
Unter dem Primat der Rassentrennung gegenüber dem integrativen Konzept der Nation - und damit Teil der "Rassenmischehendiskussion" - standen auch die Kolonialmigranten, die entweder in den Völkerschauen (etwa 100-150 Personen) den exotischen Aspekt des kolonialen Rassismus (Pascal Grosse) demonstrierten oder als Afrodeutsche in Hafenstädten (etwa 500 Personen) einen, wenn auch marginalen Beitrag zu Antikolonialismus und Antirassismus in der Weimarer Republik (Eve Rosenhaft) lieferten. Gleichzeitig stellten diese "schwarzen Landsleute der Deutschen" eine ständige Erinnerung an das vergangene Kolonialreich dar und verkörperten dadurch koloniale Revisionsforderungen.
Ohnehin wurde der deutsche Kolonialrevisionismus nach 1918 weitgehend von Antinomien und Traumata beherrscht, die es sinnvoll erscheinen lassen, ihn unter dem Aspekt kultureller Rehabilitation zu betrachten (Christian Rogowski). Im gleichen Sinne werden exotische Filme der Weimarer und NS-Zeit als Ausfluss populärkultureller Fantasien und eines stets virulenten Rassismus analysiert (Wolfgang Struck). An den auf diese Weise thematisierten kolonialen Raum (und den Anspruch auf ihn) sollten auch die Straßennamen bestimmter Stadtviertel wie etwa im "Afrikanischen Viertel" in Berlin revisionistisch erinnern - quasi eine "melancholische Verlustbilanz" (Alexander Honold). Schließlich endete der deutsche "Kolonialismus ohne Kolonien", zum großen Teil eine Fantasie- und Projektionsgeschichte, im Aufbau jenes - allerdings real fassbaren - NS-"Kolonialministeriums" (1938/43), in dem das größte inexistente Kolonialreich der Kolonialgeschichte verwaltet wurde (Dirk van Laak).
Ein vielfältig anregender Band, der zahlreiche Bausteine einer zukünftigen Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus enthält.
Horst Gründer