Konrad Renger / Claudia Denk: Flämische Malerei des Barock in der Alten Pinakothek, Köln: DuMont 2002, 519 S., 181 Farb-, 112 s/w-Abb., ISBN 978-3-8321-7255-8, EUR 58,00
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Bestandskataloge bilden eine Gattung in der kunsthistorischen Literatur, an die sich aufgrund der Notwendigkeit, über mehrere Jahrzehnte ihre Gültigkeit zu bewahren, recht hohe Ansprüche richten: Ausgehend von einer intensiven Beschäftigung mit den Originalen sollen sie die Werke einer Sammlung so umfassend behandeln, dass sie eine solide Grundlage für weiterführende Forschungen bieten. Mit dem jüngst erschienenen Katalog der flämischen Barockmalerei in der Münchner Alten Pinakothek, mit dem Konrad Renger, der langjährige Konservator in München, unterstützt von Claudia Denk die Summe seiner Forschungen vorlegt, wurde ein neuer Weg für diese Aufgabe beschritten. Man gab den strengen Rahmen, der in der älteren Reihe der wissenschaftlichen Bestandskataloge der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen angelegt war, auf und entwickelte gemeinsam mit dem Kölner DuMont-Verlag ein neues Format, mit dem nun auch ein breiteres Publikum angesprochen werden soll. Im Ergebnis hat diese Entscheidung Vor- und Nachteile, die zu diskutieren im Rahmen einer größeren Debatte zur Zukunft der Bestandskataloge lohnend wäre. Hier sollen zunächst der vorliegende Band vorgestellt und die wesentlichen Veränderungen erläutert werden.
Von den etwa 1200 Werken des Gesamtbestandes flämischer Malerei werden nur die etwa 170 ausgestellten Gemälde präsentiert, unter denen Peter Paul Rubens mit über 60 Werken dominiert, aber auch Adrian Brouwer mit 17 Werken (einem Viertel seines gesamten erhaltenen Oeuvres), Jan Brueghel d.Ä., Anthonis van Dyck und Jacob Jordaens eindrucksvoll vertreten sind. Den Grundstock der Münchner Flamensammlung legten Herzog Maximilian I. von Bayern (reg. 1597-1651) und dessen Vetter Wolfgang Wilhelm, Herzog von Pfalz-Neuburg (reg. 1614-1654), von denen der erste vier Jagdbilder und der zweite vier große Altartafeln bei Rubens in Auftrag gab. Deren Enkel bauten auf dieser Grundlage berühmte Sammlungen in München bzw. Düsseldorf auf, die bereits im 18. Jahrhundert zahlreiche Kunstliebhaber anzogen. Die 1836 in der neu eröffneten Münchner Pinakothek zusammengeführten Sammlungen wurden zu einem wichtigen Bezugspunkt der deutschen Rubens-Forschung am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
In seiner Einführung überlegt Renger, warum der vielbeschäftigte und für die führenden europäischen Herrscherhäuser tätige Rubens Aufträge aus Bayern annahm. Dabei verweist er auf die Bedeutung der Wittelsbacher als wichtige Stütze des Katholizismus in der Zeit unmittelbar vor und während des Dreißigjährigen Krieges, die Rubens, der bekanntlich als Hofkünstler im Dienste der spanischen Statthalter in den Niederlanden stand, offensichtlich aus politischen Gründen zu stärken suchte (12). So scheint eine weitere Facette dieses politisch-diplomatisch denkenden Künstlers auf, der allein schon durch den Gunsterweis, einen Auftrag anzunehmen, Einfluss auf die politischen Verhältnisse seiner Zeit nahm.
In der Gliederung des Kataloges folgen nach kurzen biographischen Einführungen zu den einzelnen Künstlern die Katalognummern mit Angaben zur Provenienz sowie thematischen, stilkritischen und ikonographischen Einordnungen. Es werden sowohl alte Beschreibungen und Katalogeinträge - soweit vorhanden - angeführt wie auch Vorstudien, Varianten und die für Rubens oft aufschlussreichen Reproduktionen hinzugezogen. Aus der Diskussion der Forschungsliteratur werden zentrale Thesen herausgegriffen, korrigiert oder um neue Aspekte erweitert. Bei den Literaturangaben wurde Vollständigkeit angestrebt, nur bei Rubens musste aufgrund der Fülle peripherer Erwähnungen eine Auswahl getroffen werden.
Nachdem Hubert von Sonnenburg bereits 1979 die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Untersuchungen zu Rubens' Maltechnik publiziert hatte [1], analysiert Renger nun systematisch das für Rubens typische Phänomen der Anstückungen des Bildträgers. Die im Katalog gezeigten Brettschemata gewähren in Verbindung mit Röntgenaufnahmen und Infrarotreflektographien neue Einblicke in den Schaffensprozess. Es zeigt sich, dass Rubens häufig eine kleinere Tafel im Zentrum, die dem ursprünglichen Sujet angemessen war, ringsum erweiterte. Bei diesen Vergrößerungen wurde oft die gesamte Komposition verändert: Aus dem konventionellen Dreiviertelporträt seiner zweiten Frau Helene Fourmant "im Brautkleid" (Inv.Nr. 340) wird zum Beispiel ein lebensgroßes Ganzfigurenbildnis, das subtil mit Elementen der Herrscherikonographie und des Privatporträts spielt. Rengers Untersuchungen zeigen, dass derartige Eingriffe oft schon unmittelbar während des Schaffensprozesses vorgenommen wurden, in manchen Fällen aber auch erst Jahre später.
Bei einigen Werken von Rubens gilt es auf Korrekturen oder Relativierungen der bisherigen Forschung hinzuweisen. Demnach wird das malerisch recht uneinheitliche Gemälde "Rubens und seine zweite Frau im Garten" (Inv.Nr. 313) nicht mehr als eigenhändiges Werk, sondern als Werkstattarbeit angesehen. Interpretationen im Hinblick auf Rubens' persönliches Eheverständnis würden damit hinfällig. Die zu Rubens' frühen Landschaften gehörende "Polderlandschaft" (Inv.Nr. 322) kann nicht mehr unter diesem Titel geführt werden, da nicht eine künstlich gewonnene, sondern eine natürliche Landschaft dargestellt ist. Die "Niederlage Sanheribs" (Inv.Nr. 326) und die 1938 verkaufte, heute im Courtauld Institute aufbewahrte "Bekehrung Pauli" werden nicht mehr als Pendants angesehen, da die unterschiedliche Maltechnik gegen ein gleichzeitiges Entstehungsdatum spreche. Inhaltliche Interpretationen dieser Werke werden damit in Frage gestellt. Auch zwei Hauptwerke der Sammlung bleiben in ihrer Deutung rätselhaft. Die streng durchkomponierte "Entführung der Töchter des Leukippos" (Inv.Nr. 321) mit ihrer aggressiven Spannung zwischen Ruhe und Schreckensdramatik wurde verschiedentlich in den politischen Kontext der Zeit - als Allegorie auf die "Entführung" der niederländischen Provinzen aus der spanischen Herrschaft (Warnke 1977) oder als Hochzeitsallegorie für die spanisch-französische Doppelhochzeit 1615 (Alpers 1967, Caroll 1989) - gestellt. Diese Interpretationen lehnt Renger ab, ohne allerdings Alternativen zu bieten.
Besonders bemerkenswert ist Rengers Beitrag zur Medici-Galerie, die mit ihren 24 monumentalen Leinwandbildern zu den größten politischen Aufträgen von Rubens zählt. Die Alte Pinakothek besitzt aus altem kurfürstlichen Bestand 17 Skizzen, die von allen vorbereitenden Arbeiten den fertigen Gemälden am nächsten kommen und vermutlich in der Rubens-Werkstatt für die Ausführung der Bilder verwendet wurden. Renger nutzt die Gelegenheit, um eine aus den Quellen geschöpfte, sehr präzise Beschreibung der Planungsgeschichte dieses Zyklus zu geben, in der er kritisch die verschiedenen Vorstudien, ihre Funktion und ihr Verhältnis zu den ausgeführten Werken diskutiert (393-443). Nirgends sonst bekommt man wohl einen so anschaulichen Einblick in die Entstehungsgeschichte dieses herausragenden Exempels barocker Herrscherikonographie geboten.
Die in der Sammlung vertretenen Künstler aus dem Rubens-Umkreis werden mit ihren Werken und Biographien eng an den Meister gebunden, so dass in Teilen unsere Kenntnis vom Werkstattbetrieb, aber auch von der Wirkung dieses ungemein produktiven Künstlers auf die lokale Kunstszene erweitert wird. So bringt Renger überzeugend van Dycks "Beweinung Christi" (Inv.Nr. 404), von dem die Alte Pinakothek auch die Ölskizze besitzt, maltechnisch und ikonographisch mit Rubens' Brüsseler Beweinung in Verbindung. Dadurch wird deutlich, dass der junge van Dyck früher als bisher angenommen nach seiner Lehrzeit bei van Balen für die Rubens-Werkstatt arbeitete, und dass er in intensiver Auseinandersetzung mit dessen Werken zu eigenen künstlerischen Ausdrucksformen fand. Van Dycks künstlerisches Selbstverständnis tritt nach Röntgenuntersuchungen an seinem frühen Selbstbildnis (Inv.Nr. 405) deutlicher zutage; Renger kann zeigen, dass eine erste, um 1620/21 entstandene Fassung nach der Rückkehr des Künstlers aus Italien um 1627 übermalt wurde. Der Flame präsentiert sich nun im Habitus eines italienischen Hofmannes, vom Herzog von Mantua mit einer goldenen Kette geehrt.
Brilliant sind Rengers Ausführungen auch zu den umfangreichen Beständen von Adriaen Brouwer und Jan Brueghel d.Ä. Bei beiden untersucht er präzise die moralisierende Bedeutung ihrer Sujets. Während Brouwers Frühwerk zunächst noch streng der Tradition christlicher Lasterikonographie verbunden ist, zeichnet sich sein Spätwerk durch eine Öffnung dieses engen Interpretationsrahmens aus zugunsten eines allgemeineren Interesses an menschlichen Verhaltensweisen und seelischen Befindlichkeiten. Bei Jan Brueghel d.Ä. hingegen verbergen sich die auf bestimmte Laster und Tugenden anspielenden Figuren oder Symbole in der überreichen Staffage seiner Weltlandschaften, die zu entdecken seinen zahlreichen Kunden ein großes Vergnügen bereitet haben muss.
Die Qualitäten dieses Bestandskataloges sind klar zu benennen: Neben den gut geschriebenen Texten, die deutlicher Ausweis der überragenden Kompetenz und der jahrzehntelangen Beschäftigung des Autors mit dem Gegenstand sind, sorgen die hervorragenden Farbabbildungen mit zahlreichen Detailvergrößerungen für großen Genuss beim Lesen und Durchblättern des Bandes. Aus wissenschaftlicher Sicht jedoch wären ausführlichere Erläuterungen zu den gemäldetechnologischen Befunden und eine umfangreichere Diskussion der Forschungsliteratur wünschenswert gewesen. Eine stärkere Trennung von Werkanalyse und Interpretation, die auch die Forschungsgeschichte berücksichtigt, würde für mehr wissenschaftliche Transparenz sorgen. Besonders schmerzlich vermisst man eine ausführlichere Sammlungsgeschichte, die die Entwicklung und die Schwerpunkte einer der international bedeutendsten Sammlungen flämischer Kunst in die Geschichte des Kunstsammelns einordnet.
Der vorliegende Band ist in vielem den hochaufwendigen, auf ein breites Publikum zielenden Ausstellungskatalogen näher als den traditionellen, eher spröden Bestandskatalogen [2]. Es bleibt die Frage, ob eine Vermischung dieser beiden Gattungen erstrebenswert ist. Bei der zugegebenermaßen schwierigen Abwägung der verschiedenen Interessen - der Wahrnehmung der wissenschaftlichen Arbeit durch die Öffentlichkeit auf der einen Seite und den Bedürfnissen der Forschung auf der anderen Seite - wäre es doch wünschenswert, wenn auch die für die Forschung erforderlichen Informationen veröffentlicht würden. Dies ließe sich vielleicht auch ohne hohe Publikationskosten über das Internet realisieren.
Anmerkungen:
[1] Hubert von Sonnenburg: Rubens, Bildaufbau und Technik. In: Hubert von Sonnenburg/Frank Preußer: Rubens. Gesammelte Aufsätze zur Technik, München 1979 (Sonderdruck aus Maltechnik-Restauro 2 u. 3, 1979).
[2] Dieses Phänomen ist auch beim jüngsten Katalog der flämischen Malerei in der Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste Wien zu beobachten (vgl. die Besprechung in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 7/8). Einen Mittelweg scheint man am Frankfurter Städel gefunden zu haben; vgl. etwa Jochen Sander: Niederländische Gemälde im Städel, 1400-1550, Mainz 1993 (2. erw. Aufl., Mainz 2002).
Elke Anna Werner