Rezension über:

Bettina Hagen: Antike in Wien. Die Akademie und der Klassizismus um 1800. Eine Ausstellung der Gemäldegalerie der Akademie der Bildenden Künste Wien vom 27. November 2002 bis 9. März 2003 und der Winckelmann-Gesellschaft im Winckelmann-Museum Stendal vom 11. Mai bis 27. Juli 2003, Mainz: Philipp von Zabern 2002, 127 S., 27 Farb-, 65 s/w-Abb., ISBN 978-3-8053-3065-7, EUR 29,80
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Rezension von:
Michael Thimann
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Michael Thimann: Rezension von: Bettina Hagen: Antike in Wien. Die Akademie und der Klassizismus um 1800. Eine Ausstellung der Gemäldegalerie der Akademie der Bildenden Künste Wien vom 27. November 2002 bis 9. März 2003 und der Winckelmann-Gesellschaft im Winckelmann-Museum Stendal vom 11. Mai bis 27. Juli 2003, Mainz: Philipp von Zabern 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 12 [15.12.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/12/2290.html


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Bettina Hagen: Antike in Wien

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In der Dramaturgie des großen romantischen Umbruchs um 1800 ist die Wiener Akademie zumeist nur als ein mit negativen Protagonisten besetztes Proszenium bekannt: Denn an dieser Akademie studierten bis 1810 die Lukasbrüder Friedrich Overbeck, Franz Pforr, Joseph Sutter, Ludwig Vogel, Joseph Wintergerst und Konrad Hottinger, um sich mit ebenso selbstbewussten wie polemischen Äußerungen zum dortigen Lehrbetrieb aus Wien zu verabschieden und in Italien die religiöse Malerei im Rekurs auf Raffael, Perugino und Fra Angelico neuzubegründen. Gerade vom jungen Overbeck, dem intellektuellen Kopf der Gruppe, sind schärfste Kritiken über den Unterricht an der Akademie in Briefen überliefert. Der Unterricht in der Akt- und Gipsklasse erscheint dort wie die letzte Zuckung einer erstarrten und hoffnungslos demodierten Kunstpraxis des Ancien Régime. Eine kleine Ausstellung, die in der Gemäldegalerie der Akademie der Bildenden Künste Wien und im Winckelmann-Museum in Stendal gezeigt wurde, widmete sich nun intensiv eben dieser klassizistischen Kunstpraxis an der Wiener Akademie. Das als Katalog erschienene, aus einer Dissertation hervorgegangene Begleitbuch von Bettina Hagen erbringt den Nachweis, dass die klassizistische Phase der Akademie einen ebenbürtigen Rang beanspruchen darf wie die Legende ihrer abtrünnigen Schüler, der Lukasbrüder.

Einen Anlass für die Konzeption der Ausstellung bot die Präsentation der in großen Teilen noch vorhandenen Gipssammlung, die seit dem späten 18. Jahrhundert systematisch ausgebaut worden war. Zusammen mit der Kupferstichsammlung und der Gemäldegalerie war das Gipsmuseum ein wesentlicher Teil des akademischen Unterrichts, seine Wertschätzung im Laufe des vergangenen Jahrhunderts jedoch soweit gesunken, dass die Sammlung in Vergessenheit geriet. Doch ist ein beachtlicher Teil der originalen Gipse in Wien noch erhalten, und es sind bezeichnenderweise gerade diese Stücke, die die fundamentale Übersetzungsleistung des Klassizismus, der vor allem auf den verschiedensten Techniken der Reproduktion beruht, veranschaulichen. Gerade die Gipsabgüsse bieten den ästhetischen Schlüssel zum Verständnis einiger Gemälde, deren komplexe Themen aus der Bildungswelt von griechischer und römischer Antike dem heutigen Betrachter kaum noch geläufig sind. Das Bestreben, die begehrten Objekte der Nachahmung in die Komposition des Historienbildes zu integrieren, lässt sich durch die systematischen Gegenüberstellungen im Katalog eindringlich studieren. In der Ausstellung war hingegen zu erfahren, dass auch die Gipsabgüsse durchaus eine Aura besitzen, die sie selbst zum Kunstwerk werden lässt. Dies gilt sowohl für die heutiger Wahrnehmung besonders nahe stehenden Fragmente als auch für die Büsten und Vollplastiken.

Unter der Leitung des in Heilbronn gebürtigen Malers Heinrich Friedrich Füger (1751-1818), zu dem bezeichnenderweise noch immer keine Monographie vorliegt, entwickelte sich gerade die Wiener Akademie zu einem Brennpunkt für die praktisch-künstlerische Umsetzung des Winckelmann'schen Nachahmungskonzepts. Doch blieb Füger in seiner Malweise immer dem spätbarocken Geschmack von Maron und Mengs verpflichtet, was Peter Betthausen in seinem Katalogbeitrag mit der fortbestehenden Bindung der Akademie an den Hof erklärt. Zumindest macht das lange Nachleben der Barockästhetik an der Wiener Akademie eine stilistische Besonderheit aus. Im Katalog dokumentieren dies auch die frühen Antikennachzeichnungen des Zeichenlehrers Hubert Maurer (1738-1818), die noch ganz dem spätbarocken Geschmack entsprechen, jedoch an der Wiener Akademie den Beginn des Frühklassizismus bezeichnen. Maurer bietet Antiken im "Weichzeichner", die noch nichts vom strengen Kontur wissen.

Füger, dessen Konzeption des Historienbildes, wie noch sein imposanter Tod des Germanicus von 1789 belegt, stark von Poussin beeinflusst ist, begegnete während seines Romaufenthalts als Stipendiat der Wiener Akademie seit 1776 den Protagonisten des neuen Ideals, vor allem Anton Raphael Mengs. 1783 von dem Akademie-Protektor Fürst Kaunitz nach Wien zurückberufen, wurde er 1795 der Direktor der Akademie, die er bis weit in das 19. Jahrhundert hinein prägen sollte. Sein Unterricht war ganz der Nachahmung der Alten verpflichtet. Der Katalog bringt zahlreiche Beispiele für die Praxis formaler Entlehnungen von antiken Skulpturen, die durch Gipsabgüsse zugänglich waren. In den Gemälden tauchen diese formalen Zitate dann in neuen Kontexten auf, sodass an Fügers Wiener Werken die aus der Nachahmung der antiken Vorbilder gewonnene neue ästhetische Erfahrung deutlich nachvollziehbar ist: Die formale Konzentration auf die Linie und die Monumentalisierung der sorgsam ponderierten, heroischen Einzelfigur kennzeichnet seine Wiener Arbeiten, die zum Vorbild für eine ganze Generation von Schülern werden sollten. Auch bei Franz Caucig und vor allem bei Josef Abel ist im Katalog manche Perle unter dem klassizistischen Standard zu entdecken. Hier ist insbesondere Abels großformatiger Cato von Utica zu nennen, der sich in sichtbarer Verstimmung über Caesars Größe das Schwert zum Suizid reichen lässt, ohne seine philosophische Würde zu verspielen.

Die dem Katalog zugrunde liegende Fragestellung ist formal- und entwicklungsgeschichtlich, doch werden die komplexen Bildthemen auch in ikonographischer Hinsicht ausführlich erläutert. Im Rahmen der Ausstellung hätte man sich ein wenig mehr Sachinformation über den Ablauf des Unterrichts selbst gewünscht. Denn es darf nicht vergessen werden, dass die Generation frühromantischer Maler in Deutschland um 1800 ihre Ausbildung vor allem noch an den spätbarock beziehungsweise frühklassizistisch orientierten Akademien erhielt. Neben der nun greifbarer gewordenen Wiener Akademie wäre hier noch an die Akademie in Kopenhagen zu erinnern, die einen ganz ähnlichen Unterricht aufwies und dem Gipsabguss ebenfalls einen zentralen Platz einräumte: Im Kopenhagener Gipssaal sollte nicht nur Asmus Jacob Carstens sein antikes Erweckungserlebnis haben, sondern sollten auch noch Philipp Otto Runge und Caspar David Friedrich ihre Ausbildung beginnen.

Michael Thimann