Andrew Hopkins: Italian architecture: from Michelangelo to Borromini, London: Thames & Hudson 2002, 222 S., 208 Abb., ISBN 978-0-500-20361-3, GBP 8,95
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Das alte England ist die Heimat der coffee tables. Dass diese im Land der Teetrinker vor allem als Ablagefläche dienen, ist leicht nachvollziehbar. Vielleicht ist dies der Grund, warum hier auch die besten coffee table books geschrieben werden. Wie dem auch sei, Commonsense sowie das Misstrauen gegen Meta- und Subebenen prägen in diesem Land Wort und Schrift auch dort, wo es nicht um bloße Unterhaltung, sondern um Wissenschaft geht. Und überhaupt: "die achte Todsünde ist die Langeweile" (Julian von Norwich). Dass diese Sicht der Dinge nicht ererbt, sondern erwerbbar ist, zeigt der idiomatic turn, den viele prominente Exilanten schon nach kurzem Aufenthalt im Gastland vollzogen haben. Die entsprechenden Texte von Gombrich, Pevsner, Panofsky, Wittkower, Wilde und Krautheimer - alle, das muss man inzwischen dazusagen, keine gebürtigen Engländer oder Amerikaner - sind klar gegliedert, unterhaltsam und instruktiv zugleich. Von deren deutschen Voremigrationstexten kann man das nicht immer behaupten. Es liegt also in der Natur der Sache, wenn sich auch ein Wahlengländer wie Andrew Hopkins mit seinem Überblickswerk "Italian Architecture from Michelangelo to Borromini" hier einzureihen versucht.
Das zweihundertseitige Buch richtet sich an ein breites Publikum, keineswegs aber an den Laien. Dass es in dieser Gewichtsklasse prinzipiell möglich ist, einen fast beliebig breiten Inhalt darzustellen, zeigen Beispiele wie Nikolaus Pevsners "European Architecture" (Erstauflage 1943). Pevsner gelang dies, indem er die stilistische Beschreibung ausgewählter Beispiele mit einer Charakterisierung der durch sie vertretenen Epoche verband. Sinn und Zweck des inzwischen heftig kritisierten Epochendenkens - das Zwingen der ungestalten Massen - zeigen sich hier besonders deutlich. Darüber hinaus hilft diese Methode, die lose auf der Zeitachse verstreuten Einzelbeispiele als prinzipiell miteinander verbundene Glieder einer wie auch immer verlaufenden Kette zu begreifen. Es spricht jedoch einiges dafür, die von den Stammvätern ererbten Stilmöbel (Frührenaissance, Hochrenaissance, Manierismus, Barock) mit all ihren Schubladen auf den Trödel zu geben. Dass ein ordnender Ersatz gefunden werden muss weiß jeder, der schon einmal unmöbliert gewohnt hat. Gerade in der von Hopkins untersuchten Periode (also: "Manierismus und Barock"), in der lineare Strömungen eher die Ausnahme bilden, bietet es sich an, regionale und individuelle Entwicklungen sowie funktionale, typologische oder geistesgeschichtliche Verklammerungen stärker als bisher in die Deutung der Architektur einzubeziehen. Ein Beispiel mag sich Hopkins an dem von Richard Tuttle und Claudia Conforti 2001 bei Electa herausgegebenen Band "Storia dell'architettura Italiana. Il secondo cinquecento" genommen haben. Im Vertrauen darauf, dass das Ganze mehr sein möge als die Summe seiner Teile, untersuchen die einzelnen Autoren in getrennten Beiträgen urbanistische Tendenzen, politisch- soziologische Bedingungen, regionale Sonderentwicklungen sowie Werk und Einfluss einzelner Architekten. Auf altmodisches Zubehör wie das "geistige Band" muss man dabei freilich verzichten. Da niemand ein solches Buch von vorne bis hinten durchliest, ist das auch nicht weiter schlimm.
Hopkins schmaler Band ist allerdings darauf angelegt, im Zusammenhang gelesen zu werden. Rein äußerlich gibt sich das Buch konventionell im besten Sinne: die Abbildungen (darunter auch Grundrisse) sind trotz des Oktavformats sehr brauchbar und zeigen eine Auswahl von Monumenten, die der UNESCO-Liste des italienischen Kulturerbes entnommen sein könnte. Internationaler Standard also. Andere Standards jedoch, eben Epochenbegriffe und Stilanalyse, wirft Hopkins gleich in der Einleitung schwungvoll über Bord. Wir sind gespannt, was an deren Stelle tritt. Das Inhaltsverzeichnis offenbart - wie der Autor einräumt - eine "mixed structure" (8). Das erste Kapitel "Michelangelo and his contemporaries" untersucht zunächst den Einfluss dieses Künstlers, bevor es in eine Rundreise durch Italiens "Kunstlandschaften" übergeht. Dieses Prozedere erfährt durch das zweite Kapitel ("Urbanism, building types and treatises") ein unvermitteltes Unterbrecherbad, bevor es im Stil des ersten Kapitels ("Scamozzi, Maderno and their contemporaries") bis zum bitteren Ende - dem Selbstmord Borrominis - weitergeht: "(...) in the early morning of 2 August 1667 (...) he committed suicide by plunging a sword into himself (...). He had changed the direction of European architecture" (209).
Von deren bisherigen Verlauf erhält der Leser eine allerdings eher vage Vorstellung. Fast scheint es, als habe Hopkins nach dem Vorbild der genannten Electa-Reihe sein eigenes Autorenkonsortium gebildet, deren Mitglieder ungestört von einander gearbeitet haben. Dabei zeigt sich, dass es einfacher ist, auf herkömmliche Stilbegriffe zu verzichten, als neue Ordnungselemente zu etablieren. Es gelingt Hopkins nicht immer, seine im Prinzip richtigen Leitfäden - individueller Einfluss, regionale, typologische, funktionale und soziologische Faktoren - so zu verknüpfen, dass ein plastisches Bild der Architekturentwicklung zwischen 1520 und 1660 entstünde. Besonders problematisch erscheint der Verzicht auf stilanalytische Knochenarbeit, wenn gleichzeitig überholte Stereotypen beibehalten werden: Michelangelo erscheint als Urquell einer neuen Architektur, die zur alten keine andere Verbindung als den Regelbruch zu haben scheint (10-18) und die Epoche der "licentious architecture" einleitet. Auf diesem Forschungsstand war allerdings schon der ausführlich zitierte Giorgio Vasari, der Michelangelo aus der Perspektive der Fünfzigerjahre des 16. Jahrhunderts beurteilte. Um die Gültigkeit der "Vitruvian rules" war es im fraglichen Zeitraum der Zwanzigerjahre jedoch keineswegs so eindeutig bestellt und Michelangelos Leistung liegt bei genauer Betrachtung mehr im Aufgreifen, Umarbeiten und Zuspitzen des Vorgefundenen als in dessen rebellischer Umkehr - eine Tendenz, die zeitgleich auch bei Architekten wie Peruzzi und Giulio Romano zu beobachten ist.
Sinnvoller, als die Architektur der Biblioteca Laurenziana in Einzelheiten zu beschreiben wäre eine Charakterisierung dessen gewesen, worin sich Michelangelos Architektur von der seiner Vorläufer und Zeitgenossen denn genau unterscheidet. Am falschen Ort herunterhängende Voluten alleine können es ja wohl nicht sein. Doch wäre dazu wieder eine Zusammenfassung dessen nötig gewesen, was vor Michelangelo passierte. Die verstreute Erwähnung einiger Werke Bramantes, Raffaels, Antonio da Sangallos und Peruzzis wird deren Bedeutung allerdings selbst dort nicht gerecht, wo Hopkins neue Bewertungen vornimmt: Den von einer Wendeltreppe gefassten Brunnenschacht in Orvieto als Antonio da Sangallos "most interesting and unusual work" zu erklären (28), offenbart ein seltsames Verständnis der sonstigen Leistungen dieses vielleicht ersten wirklichen Architekten der Neuzeit, den Hopkins nur als trüben Sachwalter Vitruvs auftreten lässt. Solche Standpunkte können nach den Forschungen der letzten dreißig Jahre (Arnaldo Bruschi, Christoph L. Frommel, Pier Nicola Pagliara, Christof Thoenes u.a.) auch in einem populären Werk nicht mehr vertreten werden.
Indem Hopkins seine Untersuchung mit Michelangelo beginnen lässt und mit Borromini schließt, evoziert er die immer wieder behauptete Wahlverwandtschaft beider Künstler. Doch worin soll diese bestehen? "Borromini [wie Michelangelo] indeed heralded a new and modern way of desining architectural space and vocabulary, braking out of the norms of the past [...]." (202) "Licentious architecture" also. Wenn nun schon Michelangelo mit den Regeln brach, bricht dann Borromini mit dem Regelbruch? Wie schwer es ist, in den großkunsthistorischen Zeitläufen festen Boden unter den Füßen zu bekommen, sieht man spätestens, wenn Hopkins Borromini gegen den Barock und dessen angebliche Hauptmerkmale abzusetzen versucht, nämlich "exaggeration, bombast und rhetoric"(202). Von solchen Stilbegriffen verabschiedet man sich in der Tat gerne. Hubalas Propyläen-Band "Barock" sowie die entsprechenden Schriften von Wittkower, Lotz und Heydenreich sollte man vorsichtshalber aber doch noch aufheben.
Golo Maurer