Gunther Hirschfelder: Europäische Esskultur. Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute, Frankfurt/M.: Campus 2001, 327 S., 16 Farb-, 52 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-36815-3, EUR 25,50
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Die volkskundlich-historische Nahrungsforschung zählt nach einem Boom in den 1970er- und 1980er-Jahren in der deutschen im Unterschied etwa zur österreichischen oder schweizerischen Volkskunde / Europäischen Ethnologie inzwischen wieder zu den randständigen Themen, und dies vor allem für die vormodernen Jahrhunderte. Schon aus diesem Grunde ist positiv hervorzuheben, dass sich Gunther Hirschfelder, Privatdozent für Volkskunde an der Universität Bonn, des Themas angenommen hat. In Laienkreisen dagegen haben historische Ernährungsformen seit Jahrzehnten ungebrochen Konjunktur, populäre Gesamtdarstellungen wie historische Kochbücher verkaufen sich entsprechend gut. Vor diesem Hintergrund ist wohl auch die Idee, einen weiteren kulturgeschichtlichen Überblick über die Ernährung in Europa zu verfassen, entstanden.
Den Anspruch, den Hirschfelder an sich stellt, ist dabei beachtlich: Eine Geschichte der Europäischen Esskultur von der Steinzeit bis heute aus der Feder eines Autors, der bisher überwiegend mit eigenen Forschungen zu Fragen des Alkoholkonsums hervorgetreten ist, stellt ohne Zweifel ein anspruchsvolles und mutiges Unterfangen dar. Das spezifische Interesse des Autors an der Trinkkultur spiegelt sich, vom Wasser bis zum Alkohol, an zahlreichen Stellen des Buches wider und wird auch in der Einleitung explizit betont. Das Buch wendet sich nicht nur an ein wissenschaftliches Fachpublikum, sondern ebenso an den interessierten Laien. In sprachlich eingängiger Form schreitet Hirschfelder mit Siebenmeilenstiefeln durch die Geschichte der Ernährung in Europa und lässt dabei auch das alte Ägypten, die römische und die griechische Antike nicht außen vor.
Hirschfelder spricht sich eingangs explizit gegen eine regionale Beschränkung auf Deutschland / das Deutsche Reich aus, weil es keine einheitliche deutsche Küche gab und gibt. Für die europäische Gegenwart konstatiert er darüber hinaus eine Entwicklung, in der die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe und die "Position auf einer ökonomischen Rangskala" inzwischen ebenso wichtig" seien "wie die regionale und / oder nationale Herkunft". Daraus resultiere "die Genese einer gruppenspezifischen Ernährungskultur, welche die nationalen und die regionalen Spezifika bisweilen abzustreifen bestrebt ist" (15). Das mag richtig sein, ist aber eindeutig Resultat einer jüngeren Entwicklung. Bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein war die Kost breiter Bevölkerungsschichten neben sozialen insbesondere stark durch regionale Unterschiede geprägt, und dies nicht nur in Deutschland, sondern in Gesamteuropa. Folgerichtig bildeten regionale Unterschiede und Besonderheiten über Jahre Schwerpunktthemen der volkskundlichen und neuerdings auch der historischen Nahrungsforschung.
Nun ist es natürlich nicht zwingend, in einem neuen Überblick nahtlos an ältere Fragestellungen anzuknüpfen, zumal die Ernährung als "soziales Totalphänomen" (17) inzwischen im Schnittpunkt mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen steht. Entsprechend greift Hirschfelder neben Ergebnissen der volkskundlichen auch auf diejenigen historischer und kulturgeschichtlicher Forschungen zurück. Seinen Fokus allerdings leitet er - unter Betonung der Mahlzeit als der zentralen Verzehrssituation und einer kulturellen anstelle einer ökonomischen Perspektive - explizit aus der Volkskunde ab (19).
Als Ausgangspunkt seiner Darstellung dient Gunther Hirschfelder die europäische Situation der Gegenwart. Dieser Ausgangsperspektive widerspricht allerdings der Aufbau des Buches, in dem die Kapitel klassisch chronologisch von der Frühgeschichte bis heute angeordnet werden. Diese Vorgehensweise erweist sich vor allem deshalb als problematisch, weil der aus heutigen Verhältnissen abgeleitete Verzicht auf eine eingehendere Betrachtung der regionalen und nationalen Unterschiede den realhistorischen Verhältnissen schlichtweg nicht gerecht wird. Lässt sich schon eine Geschichte der Ernährung in Deutschland nicht schreiben ohne eine ausführliche Berücksichtigung der regionalen Prägungen der Kost, so gilt dies umso mehr für eine entsprechende Geschichte Europas. Und auch heute noch spielen, dies bestreitet Hirschfelder allerdings nicht, bei allen Überschneidungs- und Verwischungstendenzen nach wie vor regionale und nationale Unterschiede eine Rolle. Dabei ist es nicht so, dass Hirschfelder das Regionale aus seinen Überlegungen völlig ausklammert: Regionale Ernährungsgewohnheiten werden immer wieder angesprochen, aber viel zu selten präzisiert und vor allem nicht systematisch verfolgt. Dies ist vermutlich auch der realhistorischen Vielfalt der Kostformen im Untersuchungsraum und -zeitraum zuzuschreiben, mit der ein einziges Buch zwangsläufig überfordert ist. Hier wäre weniger vermutlich mehr gewesen.
Dem breiten zeitlichen Rahmen, den das Buch abdeckt, ist eine weitere inhaltliche Schieflage zu verdanken, die allerdings problemlos zu vermeiden gewesen wäre. Mehr als ein Drittel des Textes (21-127 ohne Fußnoten) widmet sich denjenigen historischen Zeiten, über die man aufgrund fehlender Quellen nur wenig weiß (Frühgeschichte bis einschließlich Hochmittelalter). Auch der Autor wiederholt in den "vor-" und "frühmittelalterlichen" Kapiteln immer wieder, dass er auf Spekulationen angewiesen sei. Warum er sich dennoch entschieden hat, allen behandelten Epochen eine vergleichbare Zahl an Seiten zu widmen, bleibt indes unklar. Diese Entscheidung führt zwangsläufig dazu, dass der Text für die frühen Zeiten mit zahlreichen Spekulationen aufgebläht wird. Diejenigen Jahrhunderte dagegen, deren für das Verständnis unserer heutigen Ernährungsgewohnheiten weit relevantere Traditionen und Veränderungen wesentlich besser erforscht sind, kommen inhaltlich zu kurz.
Die - relative - Kürze der Darstellung für die Zeit vom Spätmittelalter bis heute (128-257 ohne Fußnoten) führt auch dazu, dass der Autor der konkreten Ausgestaltung der Ernährungskulturen weit weniger Aufmerksamkeit widmet als den allgemeinen politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen. Insgesamt liest sich das Buch an zahlreichen Stellen wie eine allgemeine, kurze Zusammenfassung zentraler historischer Entwicklungen und Ereignisse, in der unter anderem eben auch die Ernährung Berücksichtigung findet (besonders auffällig Kapitel 8, 10-12). Die in der Einleitung postulierte Fokussierung auf die kulturellen Aspekte des Ernährungshandelns, die konkrete Gestaltung von Mahlzeiten, Verzehrssituationen und Zubereitungsarten in ihrer regionalen, sozialen und historischen Vielfalt verschwinden zu oft hinter einer Übermacht an sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Fakten. So spricht Hirschfelder, um hier nur ein Beispiel zu nennen, von der Entstehung einer "neuen, differenzierten Kochkultur", die im Gefolge neuer Herdtypen (hier des Sparherdes) nach 1850 aufkam (199). Wie diese neue Kochkultur im Einzelnen aussah, bleibt indessen völlig unerörtert. Der Autor widmet sich vielmehr im unmittelbaren Anschluss an diese Aussage "neuen Wegen der Kulturvermittlung" vom bürgerlichen Kochbuch über Haushaltsratgeber für den Arbeiterhaushalt bis hin zur Entstehung von Haushaltungsschulen, deren normative Vorgaben bekanntlich keineswegs mit der täglichen Koch- und Haushaltungspraxis gleichgesetzt werden können.
Ich möchte das Buch nicht an Zielen messen, die der Autor gar nicht verfolgt hat. Es ging Gunther Hirschfelder um einen kulturgeschichtlichen Überblick über die Ernährung in Europa, der in der vorliegenden Form sein Publikum wohl eher in interessierten Laienkreisen finden wird. Diese sind gut bedient mit einer Darstellung, die mit einer Fülle an anschaulich aufbereiteten ernährungsgeschichtlichen Fakten aufwartet. Der weite Bogen, den der Autor spannt, vermittelt die über Jahrhunderte andauernde Abhängigkeit der Menschen in Europa von den Unbilden der Natur sowie die Präsenz sozialer Unterschiede auf dem Esstisch. Deutlich werden auch die Auswirkungen desjenigen Umbruchs, den die Industrialisierung mit ihrer Hinwendung zur Massenproduktion von Nahrungsmitteln, mit neuen Konservierungstechniken und dem Aufkommen industriell hergestellter Fertigprodukte, um hier nur einiges zu nennen, mit sich brachte.
Eine Geschichte der Europäischen Esskultur hat Gunther Hirschfelder nicht vorgelegt, und dies nicht nur aufgrund der Tatsache, dass das Gros seiner Beispiele aus dem deutschsprachigen, oft dazu noch rheinischen Raum oder aber aus England als dem zweiten Forschungsschwerpunkt des Autors stammt. Eine Kulturgeschichte der Ernährung in Europa müsste im Unterschied zum vorliegenden Buch mit der Pluralität von Esskulturen argumentieren, neben den Gemeinsamkeiten auch die Differenzen in ihrem historischen Wandel und ihren kulturellen Hintergründen systematisch diskutieren. Denn die europäischen Esskulturen zeichneten sich über Jahrhunderte eben durch ihre Vielfalt und nicht durch diejenige - partielle - Gleichförmigkeit aus, die erst die Moderne in der Folge industrieller Massenproduktion und überregionaler Vermarktung mit sich brachte. Ein derartiges Projekt allerdings erforderte wohl ein international und interdisziplinär zusammengesetztes Autorenkollektiv - und mehr als 327 Druckseiten.
Barbara Krug-Richter