Peter Burke: Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin: Wagenbach 2003, 252 S., ISBN 978-3-8031-3610-7, EUR 28,00
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Bilder - allgemeiner: visuelle Zeugnisse - haben in den Geschichtswissenschaften als historische Quellen lange Zeit eine untergeordnete Rolle gespielt. Die meisten Historiker haben Bildquellen eher illustrativ verwendet. Dies ist besonders bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass in den zahlreichen Bindestrich-Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft (Alltags-, Mentalitäten-, Wahrnehmungs-, Körper-, Sozial- und Kulturgeschichte) visuelle Quellen wie Gemälde, Skulpturen, Drucke, Stiche, Fotografien und Filme eine, ja die Schlüsselrolle spielen müssten und bei den Großen wie Jacob Burckhardt oder Johan Huizinga bereits gespielt haben. Die jüngere Tendenz in der Historiographie, Bilder als historische Quellen neben anderen Quellengattungen gleichwertig mit einzubeziehen, ist andernorts schon als "Visual Turn" bezeichnet worden (Bernd Roeck, in: Geschichte und Gesellschaft 29, 2003). Es nimmt nicht wunder, wenn die wohl wichtigsten auf Bildquellen basierenden Erkenntnisse für Neuzeithistoriker von Kunsthistorikern stammen (Ernst Gombrich, Michael Baxandall, Francis Haskell und andere).
Peter Burke, geboren 1937 und Historiker in Cambridge, zieht nach langen Jahren eigener Auswertung von bildender Kunst als historische Quelle - seine bereits zu Klassikern zählenden Werke zur Renaissance in Italien (1972), Volkskultur (Popular Culture in Early Modern Europe, 1978) und zu Ludwig XIV. (The Fabrication of Louis XIV, 1992) wären zu nennen - eine Art Resümee: Er widmet einen ganzen Band der Quellenkritik visueller Zeugnisse. Dieses Buch ist unter dem Originaltitel "Eyewitnessing: The Uses of Images as Historical Evidence" (2001) in der 1995 gegründeten Reihe "Picturing History" erschienen.
Dabei ist der Titel "Augenzeugenschaft" durchaus wörtlich zu nehmen: Denn im Blickpunkt steht für Burke die Zuverlässigkeit von Bildern als "Beweismaterial" für die Interpretation von Geschichte (angelehnt an das "Augenzeugen-Prinzip" Ernst Gombrichs, Seite15). Unter der Leitfrage, inwieweit und auf welche Weise Bilder Historikern als Quellen dienen können, geht Burke vom Standpunkt aus: "[...] dass Bilder weder eine Widerspiegelung gesellschaftlicher Realität sind noch ein Zeichensystem ohne Bezug zur gesellschaftlichen Realität, sondern dass sie eine Vielfalt von Positionen zwischen diesen Extremen besetzen" (211). Als "Spuren" in die Vergangenheit - zurecht kritisiert Peter Burke den Begriff der "Quelle" als etwas eigentätig Sprudelndes und greift vielmehr das Wort des Niederländers Gustaaf Renier (1892-1962) auf - "legen sie Zeugnis ab von den stereotypisierten, aber graduell sich wandelnden Sichtweisen, die Individuen oder Gruppen auf die soziale Welt haben, inklusive die Welt ihrer eigenen Imaginationen" (ebenda).
Wesentlich anhand von visuellen Quellen wie Gemälden aus der frühen Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert, der Fotografie und dem Film setzt sich Burke mit der "Lesbarkeit" von Bildern durch den Historiker auseinander. In insgesamt elf Kapiteln erläutert er Aspekte seiner Quellenkritik durch jeweils eine Gattung der bildenden Kunst, so etwa Fragen der Inszenierung am Beispiel von Staatsporträts (besonders in Kapitel 4) oder die spezifischen interpretatorischen Absichten von Malern an Historiengemälden (besonders in Kapitel 9). Als Grundlage stellt er die Ansätze der Ikonographie vor und arbeitet vor deren Hintergrund mit seinen vielfältigen Interpretationswerkzeugen. Erwin Panofsky und Roland Barthes sind seine ständig wiederkehrenden Begleiter (womit Burke der ikonographischen Anregung und der sprachtheoretischen Übermacht in der jüngeren Geschichtswissenschaft Tribut zollt).
Die Ikonographie wurde im Umfeld Aby Warburgs und besonders von Erwin Panofsky ("Iconography and Iconology. An Introduction to the study of Renaissance Art", 1939) durch die Kritik an rein formalen Interpretationsansätzen entwickelt. Ihre Leistung als inhaltliche Tiefen- und Strukturanalyse von komplexen Sinneinheiten in der bildenden Kunst (die "konventionale" Bedeutungsebene) liegt besonders in der Markierung kultureller Codes und, durch die wechselseitig ausgelegte Beziehung visueller und schriftlicher Quellen, in der Entdeckung des "Ikonotexts" (Peter Wagner). Panofsky selbst unterschied davon noch die Ikonologie, die sich den langfristigen und tiefgründigen Inhalten kultureller Symbolik annimmt (Bilder als Ausdruck des "Geistes der Zeit"). Hier setzt Peter Burke an: Durch seine Schwerpunktauswahl "wie Religion, Macht, Sozialstrukturen und Ereignisse" will Burke den Erwartungen von Mentalitäts-, Alltags- und Sozialhistorikern begegnen (48). Die allgemeine Kritik an der Ikonographie, sie schließe die Sozialgeschichte der Kunst aus, greift Burke auf und schlägt vor, sich besonders dem kommunikativen Zusammenhang von Bildern als visuelle Medien zuzuwenden.
Ausgangspunkt der von Peter Burke vorgetragenen, vor allem um die Frage nach der repräsentierten Wirklichkeit kreisenden Überlegungen bildet das "Realitätsproblem", demonstriert am Beispiel von Fotografien und Porträts. Auf Grund der Einsicht, ein visuelles Zeugnis auf seinen Kontext untersuchen zu müssen, entwirft Burke den Quellenwert von Bildern nach drei Leitfäden: 1) visuelle Spuren in die Vergangenheit geben über Aspekte der Realität Aufschluss (etwa über Gegenstände), 2) visuelle Quellen "verzerren" Wirklichkeit ("vergangene Standpunkte"), 3) visuelle Quellen enthalten einen "Prozeß der Verzerrung" (als Beweis für Phänomene wie Mentalität, Ideologie und Identität) (34).
Insbesondere erzeugen der Standpunkt des Produzenten und jener des Rezipienten den im Bild zu Stereotypen geronnenen Blickwinkel, etwa durch die "Veränderung" des Anderen oder seine "Anverwandlung". Der bestimmte Blick ("regard" im Sinn von Jacques Lacan) manifestiert sich in Selektionsprinzipien und Identitätsproduktion durch die spezifische Auswahl von determinierenden Modellen: Der städtische Blick generiert, so Burke, ein gewisses Bild vom Landbewohner, der männliche Blick von der Frau, der mitteleuropäische Blick vom Orient und so fort.
Die niederländische "Genre-Malerei" des 16. und 17. Jahrhunderts dient Burke dazu, um auf die Konventionen visueller Genres hinzuweisen. Bilder des Heiligen und Übernatürlichen vermitteln, formen und dokumentieren Wahrnehmung. Gerade etwa Staatsporträts arbeiten mit Metaphern und Symbolik, um Abstraktes sichtbar zu machen. Ihre Veränderungen zeugen von Bedeutungswandel als Ausdruck sich transformierenden politischen Stils. Ikonoklasmus und Vandalismus belegen das Verfehlen der Intentionen von Auftraggebern (und Künstlern).
Der "Augenzeugenstil" eines Carpaccio, der niederländischen Malerei und von Stadtansichten bietet ein reiches Angebot an "Realienkunde", was aber nicht davon entlaste, Inszenierung und Auswahl sowie deren Gründe zu untersuchen. Einen spezifischen Einblick in den Sinn von Bildern als historische Quellen geben visualisierte Ereignisse wie in der narrativen Malerei des "großen" Stils von Schlachtenbildern. Als Ikonotext haben hier die Titel eine zuweisende Funktion, Formeln (Standard-Figuren) und Themen (Standard-Szenen), wie sie Peter Burke nennt, machen Bilder von Ereignissen lesbar. Die Maler von Historiengemälden verbildlichen implizite (angenommene) Parallelen zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Mit der Zeit wenden sie sich sozialgeschichtlichen Ansichten zu. In diesem Zusammenhang kommt Peter Burke ausführlicher auf den Historienfilm zu sprechen. Wenn Filmemacher als Historiker auftreten - was Hayden White "Historiophoty" nennt - und, wie etwa Roberto Rosselini, in medientypischer Weise Vergangenheit visualisieren, interpretieren sie, laut Burke, vermittels doppelter Filterung: Der Stoff erfährt zunächst eine literarische, dann eine kinematographische Filterung.
Die zwei abschließenden Kapitel beschäftigen sich mit der Weiterentwicklung und Ergänzung der ikonographischen durch andere Ansätze (Peter Burke bevorzugt es, durchgehend von "Ansätzen" und nicht von "Methoden" zu sprechen). Die Psychoanalyse mit ihrem Bezug auf unbewusste Symbole und Assoziationen wird ebenso angeführt wie strukturalistische Interpretamente, die das Bild als Zeichensystem unterhalb eines allgemeinen Systems von Zeichen begreifen (zum Beispiel Foucaults Repräsentationstheorie). Der Poststrukturalismus lässt im Anschluss an Jacques Derrida das unendliche Spiel der Signifikationen (Polysemie) zu. Allerdings, die Kulturgeschichte der Bilder, darunter vor allem die Rezeptionsgeschichte, konzentriert sich auf den sozialen Kontext mit seinen visuellen Regeln und Konventionen: So werden etwa Reaktionen auf Bilder thematisiert (mit seiner Geschichte des Schicksals des "Hofmanns" von Baldassare Castiglione, 1995, ist Burke selbst einen ähnlichen Weg bereits gegangen). Endlich entscheidet sich Peter Burke für eine pragmatische und offene Anwendung von Angeboten der Ikonographie und ihrer "Alternativen", für einen "dritten Weg" (ähnlich wie in der Politik ein integrativ-synthetisches Verfahren einer postideologischen Zeit). In seinen resümierenden Bemerkungen fällt es Peter Burke erstaunlich schwer, Bilder einfach als eine neben anderen, gleichrangig zu behandelnde Quellengattung zu behaupten.
Die entscheidende Stärke des Buches von Peter Burke ist darin zu sehen, dass es sich um eine Pionierleistung handelt: Ein fast essayistisch geschriebenes, gut lesbares, einführendes Kompendium in die Quellenkritik visueller Spuren in die Vergangenheit. Die Abhandlung stützt sich auf einen riesigen Erfahrungsschatz, eine Fülle an bibliografischen Anregungen wird präsentiert (wie bei Burke üblich). Ganz besonders positiv sind die ständigen Verweise auf andere Kulturen hervorzuheben (besonders auf den fernostasiatischen Kulturraum), nicht minder die Einbeziehung der bewegten Bilder, des Films (auch wenn Burke von "guten historischen Filmen" spricht).
Eine bemerkenswerte Schwäche zumindest der deutschen Ausgabe ist der Umstand, dass nur schwarz-weiß Abbildungen (mit Ausnahme des Umschlagbildes) geboten werden, die zudem auf Grund des eigentlich ziemlich benutzerfreundlichen Formats des Bändchens oft recht klein geraten sind. Indes, Burke führt die geforderte methodische Offenheit kaum selbst wirklich tief gehend vor, Systematik tritt gegenüber dem narrativen Bogen zurück (Burke bleibt in der Vielfalt seiner Ansätze stecken, die verwendeten Abbildungen erscheinen oft nur illustrativ). Selbst wenn Pierre Bourdieu (ähnlich wie schon bei der "Renaissance in Italien") im Hintergrund zu spuken scheint, genannt wird er nicht - der soziologische Prozess der kulturellen Kodifizierung wird nicht erklärt. Musterhefte, Kompendien, Fachliteratur und Mirakelbücher werden als Quellen nicht ausdrücklich benutzt, Architektur ist ausgeklammert. Irritierend ist ferner, dass Burke immer wieder dazu tendiert, Bilder als mögliche Abbilder einer objektiven Wirklichkeit zu begreifen - als seien Bilder nicht ebenso Spuren in die Vergangenheit wie andere "Quellen", die allesamt zur überlieferten Phänomenologie des (Re-)Konstruktes vergangener Realität gehören. Begrifflich wäre noch festzustellen, dass das generelle Verhältnis von visuellen Zeugnissen und Kunst nicht aufgegriffen wird. Gründe für den wenigstens phasenweisen "visuellen Analphabetismus" der Historikerzunft werden nicht erläutert.
Heinrich Lang