Nils Freytag: Aberglauben im 19. Jahrhundert. Preußen und seine Rheinprovinz zwischen Tradition und Moderne (1815-1918) (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte; Bd. 22), Berlin: Duncker & Humblot 2003, 506 S., ISBN 978-3-428-10158-0, EUR 92,00
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Nils Freytag: Das Wilhelminische Kaiserreich 1890-1914, Stuttgart: UTB 2018
Nils Freytag / Wolfgang Piereth: Kursbuch Geschichte. Tipps und Regeln für wissenschaftliches Arbeiten, 2. Auflage, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2004
Nils Freytag / Wolfgang Piereth: Kursbuch Geschichte. Tipps und Regeln für wissenschaftliches Arbeiten, 2. Auflage, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2004
Auch im 19. Jahrhundert spielte der Zauber-, Wunder- und Geisterglaube eine größere Rolle als vielfach angenommen. Die "Entzauberung der Welt", von der Max Weber gesprochen hatte, machte auch im bürgerlichen Zeitalter nur langsam Fortschritte, nicht nur auf dem Land, sondern auch in der Stadt, wie die jetzt gedruckt vorliegende Trierer geschichtswissenschaftliche Dissertation von Nils Freytag eindrucksvoll dokumentiert. Man kann sogar mit Fug und Recht von einer "Wiederverzauberung" der Welt in einer Zeit sprechen, als der Fortschrittsglaube das Denken und Handeln der Menschen zu dominieren schien. Im Mittelpunkt dieser Studie steht also die Nachtseite des Modernisierungsprozesses, der Historiker bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt und das Feld meist den Volkskundlern überlassen haben.
Da viele Leser beim Stichwort "Aberglauben" vor allem an das bunte Sammelsurium von Bräuchen denken, die im viel genutzten, aber nicht unproblematischen Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens alphabethisch aneinander gereiht sind, macht es durchaus Sinn zu Beginn der Untersuchung diesen schwammigen Begriff zu definieren. Freytag geht es nicht um den Aberglauben selbst und seinen Inhalt, sondern um die Deutungsmuster und die gesellschaftlichen Strukturen, die den Diskurs über den Aberglauben prägen.
Die der modernen Kulturgeschichte verpflichtete Analyse von Zauber-, Wunder- und Geisterglaube basiert auf einer breiten Quellenbasis. Herangezogen wurden nicht nur für die preußische Rheinprovinz einschlägige Archivalien unterschiedlichster Provenienz, sondern auch zahlreiche Gelegenheitsschriften, die oft nur in wenigen Bibliotheken überliefert sind.
Auf die umfangreiche Einleitung, die nicht nur sehr gut den Forschungsstand zusammenfasst, sondern auch einen lesenswerten Überblick über kulturgeschichtliche Ansätze in der neueren Geschichtswissenschaft bietet, folgt im Kapitel 2 eine Darstellung der rechtlichen Grundlagen im Allgemeinen Preußischen Landrecht und der juristischen Diskussionen, die im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem Vorwurf des Aberglaubens geführt wurden. So wurde zum Beispiel Aberglaube von einigen Juristen als strafmildernd angesehen. Der konkrete Fall war die körperliche Misshandlung eines angeblichen "Gespenstes". Als Straftatbestand verschwindet dagegen der Aberglaube im Laufe des 19. Jahrhunderts aus den Kodizes. Stattdessen wurde der Aberglauben, so Freytag, "zu einem zentralen kulturpolitischen Schlagwort", das in der Rheinprovinz im Kulturkampf an Brisanz gewann.
Das dritte Kapitel befasst sich ausführlich mit dem religiösen Aberglauben. Dabei geht es vor allem um die Einstellung der preußischen Verwaltung zum Wallfahrtswesen. Für den Staat dominierten dabei ordnungs- und weltanschauliche Gesichtspunkte. Wie Freytag nachweist, funktionierte gerade die Kontrolle des Wallfahrtswesens (mit Ausnahme der bekannten Großwallfahrten, zum Beispiel zum Heiligen Rock in Trier) nicht einseitig von oben nach unten. Auch der Pfarrgeistlichkeit vor Ort kam eine nicht zu vernachlässigende Rolle zu. Konfessionspolitische Auseinandersetzungen erhöhten auf der einen Seite die innerkirchliche Akzeptanz von Wallfahrten, forderten auf der anderen Seite aber auch eine amtskirchliche Kontrolle, die nicht immer einfach durchzusetzen war.
Neben den Wallfahrten waren vor allem Formen religiösen Heilens oft Anstoß für Aberglaubensvorwürfe. Das gilt insbesondere für Teufelsaustreibungen, die sich auch im 19. Jahrhundert im Volk großer Beliebtheit erfreuten und auch im Klerus durchaus auf breite Zustimmung stießen, trotz übergeordneter Bedenken von Seiten der geistlichen Oberhirten. So durfte in der Rheinprovinz seit 1827 von jedweder Form religiöser Medizin erst dann Gebrauch gemacht werden, wenn ein ärztliches Attest vorlag.
Das vierte Kapitel befasst sich mit den populären Druckschriften, die im 19. Jahrhundert in den Augen der Obrigkeit dazu dienten, den Aberglauben in der Bevölkerung zu fördern oder zu festigen. Freytag beschreibt die diversen Zensurmaßnahmen und analysiert Listen von verbotenen Schriften. Immerhin machten Werke dieses Inhalts über fünf Prozent der bis 1895 in der Rheinprovinz vom Kolportagevertrieb ausgeschlossenen Druckschriften aus. Die preußische Verwaltung zielte mit ihren Zensurbemühungen auf den angeblich leicht beeinflussbaren, zumeist ländlichen Untertan, der Wunderschriften jeder Art, insbesondere Zauberbücher, konsumierte.
Im fünften Kapitel steht der Kampf gegen den medizinischen Aberglauben im Zentrum. Zunächst wird der Umgang der preußischen Verwaltung mit Laienheiler untersucht, die damals als Quacksalber und Kurpfuscher diffamiert wurden. Der Autor beschreibt dabei die unterschiedlichen Strategien, die von dem Verbot über die strikte Aufsicht bis hin zur Konzessionierung reicht. Freytag kommt zu dem Ergebnis, dass seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine zunehmende Ausgrenzung dieser Heilergruppe zu beobachten ist. Eine Beobachtung, die mit den Befunden neuerer medizinhistorischer Studien übereinstimmt. Als Beispiel dafür, wie im 19. Jahrhundert die Medikalisierung traditionelle religiöse Heilweisen allmählich verdrängt, dient ihm das so genannte Hubertusschlüsselbrennen bei Fällen von Tollwut, gegen die die Medizin bis Ende des 19. Jahrhunderts kein wirksames Mittel hatte.
Das sechste Kapitel verdient insbesondere die Aufmerksamkeit der Medizinhistoriker, denn es geht um den Aberglaubensvorwurf, der die damals neuen Therapien (animalischer Magnetismus, Hypnose und Spiritismus) trifft. Auch hier hat der Autor interessante Archivalienfunde zu bieten, die unser Wissen von der Akzeptanz dieser Heilverfahren um einige Fassetten bereichert. Bemerkenswert ist weiterhin Freytags Befund, dass der Hypnotismus überwiegend ein städtisches Phänomen war.
Um zu zeigen, inwieweit Volks- und Elitekultur auch im 19. Jahrhundert noch zahlreiche Schnittstellen und Berührungspunkte hatten, bringt der Autor vier instruktive Fallbeispiele von Heilern, denen man damals den Vorwurf machte, abergläubische Heilpraktiken zu verwenden. Freytag kommt zu einem ähnlichen Schluss wie bereits Eberhard Wolff in seiner Studie über das Impfverhalten der württembergischen Bevölkerung um 1800, nämlich, dass die damalige Laienheilkunde nicht nur traditionelle, sondern auch moderne Elemente enthielt.
Das achte Kapitel greift neuere Fragestellungen einer Sozialgeschichte der Medizin auf und bringt dabei vor allem die Patientenperspektive in das Gesamtbild ein. So wird zum Beispiel die Frage aufgeworfen, wie Patienten auf den Vorwurf reagierten, abergläubisch zu sein. Auch die Frage, welche Geschlechterstereotype in der Diskussion über abergläubische Praktiken eine Rolle spielten, wird dankenswerter Weise nicht außen vor gelassen. Die abschließende Bilanz (Kapitel 9) lässt noch einmal deutlich werden, woran die Modernisierungsforschung bislang gekrankt hat.
Robert Jütte