Johannes T. Groß: Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden im Deutschen Kaiserreich (1871-1914), Berlin: Metropol 2002, 240 S., ISBN 978-3-932482-84-7, EUR 19,00
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Zeitgenössischen Beobachtern war oftmals unverständlich, wie im späten 19. Jahrhundert, einer Zeit, die viele Bürger als Epoche der Wissenschaft und des Fortschritts einstuften, derart atavistische Vorwürfe gegen Juden erhoben werden konnten, wie der, diese würden Kinder ermorden, um deren Blut für religiös-rituelle Zwecke zu gebrauchen. Gänzlich unerklärlich erschien es ihnen, wie solche Gerüchte zu Ausbrüchen antisemitischer Gewalt führen konnten. Die neuere historische Forschung hat sich daher mit ihrem Gespür für die Brüche und Ambivalenzen des Zivilisationsprozesses mit besonderer Aufmerksamkeit dieser Fälle angenommen. Diese stießen auch deshalb auf großes Interesse, weil hier Phänomene wie Gewalt und die Bedeutung von Gerüchten, politik- und mentalitätsgeschichtliche Fragen sowie das Verhältnis von traditionellem Judenhass und modernem Antisemitismus zusammenkamen.
Nachdem die Unterstellung, Mord sei ein Element der jüdischen religiösen Rituale, im Mittelalter aufgekommen war, schien es über Jahrhunderte um dieses Gerücht still geworden zu sein, bis es in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Damaskus (1840) wieder auftauchte und die europäische Öffentlichkeit erregte. Nicht zuletzt die hasserfüllten Schriften des Theologen August Rohling belebten die alten Gerüchte, und im Sommer 1882 verbreitete sich in der ungarischen Stadt Tisza-Eszlar ein Ritualmordvorwurf, der besonders dadurch breite Aufmerksamkeit in Europa auf sich lenkte, dass zahlreiche katholische und protestantische Zeitungen ihn für eine antisemitische Kampagne nutzten.
In kurzer Folge tauchte daraufhin dieses Gerücht in verschiedenen Städten des Deutschen Reiches auf, und immer dann, wenn ein Kind verschwunden war oder ermordet wurde, mussten sich Juden gegen den Vorwurf zur Wehr setzten, sie hätten einen Ritualmord begangen. Große Beachtung hat in der jüngeren historischen Forschung vor allem der Fall in der westpreußischen Kleinstadt Konitz aus dem Jahr 1900 gefunden, dem kürzlich gleich zwei unabhängig voneinander entstandene Studien gewidmet waren, die ihn aus unterschiedlichen Perspektiven analysiert haben. [1]
Unter juristischen Fragestellungen hat Johannes T. Groß nun drei Fälle analysiert, den Mord an einem 14-jährigen Jungen in dem bei Danzig gelegenen Dorf Skurz (1884), einen Mord in der niederrheinischen Kleinstadt Xanten (1891) sowie den genannten Fall Konitz. Nach einer kurzen und präzisen Einleitung über die mittelalterliche Entstehung der Ritualmordvorwürfe und deren Wiederbelebung im Deutschen Kaiserreich gibt er die Entwicklung der polizeilichen Ermittlungen und den Verlauf der gerichtlichen Untersuchungen wieder, schildert die Prozesse sowie die antisemitische Propaganda und die Reaktion der Öffentlichkeit. Während der Skurzer Ritualmordvorwurf die parlamentarische Bühne nicht erreichte, sind die Fälle von Xanten und Konitz im preußischen Abgeordnetenhaus und im Deutschen Reichstag ausführlich diskutiert worden - ein Thema, dem Groß im folgenden Kapitel nachgeht. Schließlich nimmt er die in diesem Kontext publizierten kleineren antisemitischen Schriften in den Blick, die mitunter drastische ikonografische Darstellungen enthielten und oftmals versuchten, die Anschuldigungen mit pseudowissenschaftlichen Methoden zu belegen. Groß beschreibt schließlich die Bemühungen, den Vorurteilen und Gerüchten entgegenzutreten. Dabei geht er auch der Frage nach, welche strafrechtlichen Möglichkeiten im Deutschen Reich bestanden, gegen die Ritualmordbeschuldigungen vorzugehen, und wie diese genutzt wurden, um gegen den Antisemitismus zu kämpfen. Besondere Aufmerksamkeit widmet er hierbei dem Prozess gegen die Redakteure der antisemitischen 'Staatsbürger-Zeitung', die schließlich wegen Beleidigung und Verleumdung verurteilt wurden.
Mit diesem Kapitel endet das Buch, und es endet abrupt und unerwartet. Sinnvoller wäre es gewesen, wenn Groß das Kapitel, in dem er die drei von ihm herangezogenen Fälle miteinander vergleicht, an das Ende gesetzt und mit ein paar zusammenfassenden Betrachtungen zu einem Schlusskapitel ausgearbeitet hätte. In diesem vergleichenden Kapitel kann der Verfasser zeigen, dass die medizinischen Gutachten, die sich teilweise mit den Ritualmordvorwürfen deckten und sich später als nicht stichhaltig erwiesen, in allen drei Fällen von erheblicher Bedeutung für die Durchsetzung der antisemitischen Gerüchte waren. Immer standen die Justizbehörden unter dem Druck der antisemitischen Agitation und hatten erhebliche Schwierigkeiten, die Ermittlungen zu führen. Sowohl 1884 und 1891 als auch 1900 nutzten die Antisemiten die Gerichtsöffentlichkeit, um ihre Ideen zu propagieren. Vor allem aber zeigt sich, wie eng die Ritualmordvorwürfe und die öffentlichen Skandale, die sie auslösten, mit der Entwicklung der antisemitischen Bewegung zusammenhingen. Im Skurzer Fall von 1884 hatten die Antisemiten noch nicht die propagandistischen Mittel, ihrer Agitation eine stärkere politische Dynamik zu verleihen. Der Xantener Vorfall steht zwischen den Wahlen von 1890 und 1893, in denen die antisemitischen Parteien große Erfolge errangen, und die Konitzer Ereignisse schließlich fielen in eine Zeit, in der die antisemitische Bewegung politisch zwar an Einfluss verloren, das antisemitische Denken jedoch zu einer kohärenten Ideologie ausgebaut und in Teilbereichen der Gesellschaft etabliert war.
Auch wenn Groß auf ein Schlusskapitel verzichtet hat, ist diese Studie eine flüssig geschriebene und erhellende Darstellung über den Umgang von Staat und Justiz im Deutschen Kaiserreich mit den Ritualmordvorwürfen.
Anmerkung:
[1] Christoph Nonn: Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich, Göttingen 2002; Helmut Walser Smith: Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt, Göttingen 2002.
Ulrich Wyrwa