Rezension über:

Justin Stagl: Geschichte der Neugier. Reisekunst 1550-1800, Wien: Böhlau 2002, 413 S., 21 s/w-Abb., ISBN 978-3-205-99462-6, EUR 55,00
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Rezension von:
Ralf Pröve
Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Holger Zaunstöck
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Pröve: Rezension von: Justin Stagl: Geschichte der Neugier. Reisekunst 1550-1800, Wien: Böhlau 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 3 [15.03.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/03/2939.html


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Justin Stagl: Geschichte der Neugier

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Nachdem sie jahrzehntelang vor dem Hintergrund des sozialstrukturgeschichtlichen Paradigmas ein Stiefkinddasein gefristet hatte, ist die Reiseforschung seit einigen Jahren stark im Kommen. Hintergrund dieser Entwicklung ist die kulturgeschichtliche Wende, die das Augenmerk vor allem auf Phänomene wie Kommunikation und Wahrnehmung richten ließ und damit dem Forschungsfeld der Reise neue Impulse verschaffte. Justin Stagl gehört zu jenen wenigen, die sich bereits vor 25 Jahren auf hohem methodischen und theoretischen Niveau mit dem Thema beschäftigt haben.

Freilich, und das hier zu besprechende Werk macht da keine Ausnahme, geht es ihm weniger um das Reisen an sich, etwa um die sozial- oder technikgeschichtlichen Aspekte des Unterwegsseins. Vielmehr stehen die Reflexionen über das Reisen und die Entwicklung der im 17. und im 18. Jahrhundert viel beachteten Apodemik des Reisens, also der Kunst zu Reisen, im Vordergrund. Auch die nun vorgelegte Geschichte der Neugier, die stark überarbeitete Übersetzungsfassung einer 1995 auf Englisch publizierten Monografie, beschreibt die Planung, Protokollierung und Auswertung von Reisen.

Stagl arbeitet mit dem Begriff der "Sozialforschung", einem den Menschen charakterisierenden Bedürfnis der Informationsgewinnung über andere politische, soziale und kulturelle Gegebenheiten auf der Welt. Zu den drei so genannten Urmethoden dieser Gewinnung von Wissen zählen die Reise, die Befragung und die Erkundung signifikanter Phänomene; zusammen bilden sie ein Forschungssystem. Die insgesamt acht Kapitel des Buches lassen sich auf zwei Schwerpunkte verteilen. In den ersten drei Abschnitten wird dieser Ansatz näher ausgeführt, die fünf folgenden widmen sich jeweils Einzelstudien.

Im ersten Kapitel wird die Sozialforschung unter historisch-chronologischem Vorzeichen von den archaischen Gemeinschaften und frühen Hochkulturen bis zum Ausgang des Mittelalters beschrieben. Obwohl es sich keineswegs, wie Stagl immer wieder betont, um eine Fortschrittsgeschichte handele, da es immer wieder Auf- und Abstiege gegeben habe, sei es doch im Humanismus zu einer Weiterentwicklung des Forschungssystems gekommen, zu einer gewissen Methodisierung. Diese erfuhr in der Frühen Neuzeit, der das nächste Kapitel gewidmet ist, eine besondere Aufmerksamkeit, die sich vor allem in der frühmodernen Reisekunst manifestierte. Der dritte Abschnitt behandelt im Zusammenhang damit frühmoderne Umfragen, Sammlungen sowie Projekte sozialwissenschaftlicher Forschungs- und Dokumentationszentren.

Die fünf Einzelstudien sind schillernd-anschaulich beschrieben und detailreich recherchiert: Da ist zum einen George Psalmanazar, ein anonym gebliebener Engländer, der sich als Bewohner der Insel Formosa ausgab und 1704 in einer Art statistischer Beschreibung das Land vorstellte - mit allen Vorurteilen, die die Zeitgenossen lesen wollten. Da ist zum anderen Graf Leopold Berchtold, der dem gebildeten Reisenden einen Katalog von 2443 Fragen auf den Weg geben wollte, um alle Eindrücke sogleich systematisch erfassen zu können. Oder etwa August Ludwig Schlözer, der eine ethnografische Methode zur Erforschung der Menschheit nach Völkern entwickelte, oder der Comte des Volney, der seinen Umfragebetrieb zu perfektionieren suchte.

Es sind diese Abschnitte des Bandes voller Skurrilitäten und bizarrer Auswüchse einer Sammel- und Systematisierungswut der Zeitgenossen, die der historisch interessierte Leser besonders goutieren wird. Demgegenüber wirken die streng systematisch gehaltenen einführenden Kapitel des Soziologen Stagl etwas ermüdend. Vor allem die Vorgeschichte der Sozialforschung hätte man besser stark kürzen sollen.

Nichtsdestotrotz ist dieses Buch, das über 20 Abbildungen und ein sehr umfangreiches Literaturverzeichnis enthält, ein großer Gewinn, zeigt es doch, wie ein scheinbar bekanntes Terrain der boomenden Erforschung von Phänomenen wie Wahrnehmung, Wissensvermittlung und Wissensorganisation wichtige Impulse verschaffen wird. Dass hierbei die Reise selbst zu kurz kommt, dürfte zu verschmerzen sein.

Ralf Pröve