Michael Borgolte (Hg.): Das europäische Mittelalter im Spannungsbogen des Vergleichs. Zwanzig internationale Beiträge zu Praxis, Problemen und Perspektiven der historischen Komparatistik (= Europa im Mittelalter; Bd. 1), Berlin: Akademie Verlag 2002, 421 S., ISBN 978-3-05-003663-2, EUR 49,80
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"Europäisches Mittelalter" und "Vergleich" - damit werden bereits im Titel des hier zu besprechenden Buches zwei Themenfelder benannt, die im historischen Schrifttum der letzten Jahre eine unübersehbare Konjunktur besaßen und noch besitzen. Dies, obwohl (vielleicht aber auch gerade: weil) sie bei näherer Betrachtung weniger eindeutig definiert sind, als dies zunächst den Anschein haben mag. Tatsächlich entsteht bisweilen der Eindruck, "Vergleichen", zumal mit Blick auf Europa, sei in Mode. Allzu oft bleibt dabei jedoch offen, was genau eigentlich zu welchem Zweck und mit welchem Erkenntnisgewinn verglichen wird.
Diesem offensichtlichen Missstand durch Reflexion über den Begriff des europäischen Mittelalters und die erkenntnisleitende Rolle der historischen Komparatistik in diesem Zusammenhang zu begegnen, ist das erklärte Ziel des Bandes, dessen Einzelbeiträge mehrheitlich auf eine vom Berliner Institut für vergleichende Geschichte Europas im Mittelalter im Jahr 1999 veranstaltete Tagung zurückgehen. Entsprechend der thematischen Vorgabe umfassen die in drei größeren Rubriken angeordneten Einzelbeiträge ein breites Spektrum möglicher Formen und Gegenstände des Vergleichs. Sie enthalten Untersuchungen zur Geschichte West-, Nord-, Süd- und Ostmitteleuropas; zugleich wird in Anwendung der vergleichenden Methode auch ein weiter thematischer Kreis von der Geschichte der Grundherrschaft und des Feudalismus über die Kirchengeschichte, die Geschichte sozialer Eliten bis hin zur Wissenschaftsgeschichte gezogen.
In der ersten Rubrik ("Perspektiven, Geschichte und Theorie des Vergleichs") folgen den einleitenden Überlegungen Michael Borgoltes unter anderem Beiträge von Patrick J. Geary zum Verhältnis von vergleichender Geschichte und sozialwissenschaftlicher Theorie, von Otto Gerhard Oexle zu Ständen und Gruppen als zwei spezifisch europäischen Phänomenen sowie von Hans-Werner Goetz über frühmittelalterliche Grundherrschaften im europäischen Vergleich. Die zweite Rubrik ("Transkulturelle und diachrone Vergleiche") umfasst unter anderem Beiträge von Gadi Algazi zur abbasidischen Hofkultur und David L. d'Avray zur Rolle der kirchlichen Heirat im Mittelalter. Sverre Bagge vergleicht die mittelalterlichen historiografischen Traditionen in Byzanz, Norwegen und Island, Italien und dem Reich. Tore Nyberg untersucht in einem diachronen Zugriff das hochmittelalterliche und spätmittelalterliche Skandinavien hinsichtlich seiner Herrschaftsstrukturen, der Rolle der Kirche und der Wertorientierungen der einfachen Menschen. In der dritten und letzten Rubrik ("Bilaterale Vergleiche") finden sich unter anderem Beiträge von Bernd Schneidmüller zur Wahrnehmung politischer Ordnung im hochmittelalterlichen Deutschland und Frankreich sowie der Vergleich spätmittelalterlicher Fürstenhochzeiten in Burgund und Bayern von Karl-Heinz Spieß. Abgeschlossen wird der Band von einer Zusammenfassung durch Frank Rexroth, der das Potenzial der Komparatistik für die Erforschung des europäischen Mittelalters genauer ausleuchtet.
Diese dem Leser gebotene Vielfalt an Themen und Formen des Vergleichs stellt sich als Folge der thematischen Vorgaben Borgoltes ein. Wenn Europa im Mittelalter vieles, auch Widersprüchliches, bedeuten konnte, und von den Zeitgenossen nur selten als räumliche oder politische Kategorie verwandt worden ist, kommt der Historiker nicht umhin, sich im wahrsten Sinne des Wortes einen "modernen" Begriff von Europa zu machen. Der Herausgeber spricht sich dabei ganz dezidiert dafür aus, das europäische Mittelalter nicht auf das durch eine vermeintlich einheitliche, lateinisch-christliche Kultur geprägte Abendland zu reduzieren, sondern die griechisch-orthodoxe, jüdische und muslimische Kultur einerseits und heterogene Entwicklungen der abendländischen Kultur insbesondere in Nord- und Osteuropa andererseits mit in den Blick zu nehmen. Borgolte ist sich dabei durchaus bewusst, dass die Mediävistik Gefahr läuft, in dieser Abkehr vom europäischen Mittelalter, begriffen als lateinischer Okzident, sich ihrer ureigensten Kernaussage zu berauben - Mittelalter als die dem lateinisch-christlichen Abendland eigene Brückenphase zwischen Antike und Neuzeit.
Der eigentliche Spannungsbogen des Themas entsteht jedoch, indem zwei Forschungsfragen gemeinsam betrachtet werden: Die Frage nach dem Untersuchungsgegenstand ("Was ist europäisches Mittelalter?") wird mit der Frage nach der Methode des Erkenntnisgewinns ("In welcher Weise sollte ein europäisches Mittelalter untersucht werden?") verknüpft. Borgolte sieht in der kulturellen Vielfalt eines solchermaßen weit definierten mittelalterlichen Europas nicht nur die Chance, lange eingeübte fächerspezifische Denkmuster aufbrechen zu können. Die älteren Ansätze der historischen Komparatistik bei Max Weber und Marc Bloch aufgreifend - ihre Wiederentdeckung im Rahmen der durch Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka in den 70er-Jahren definierten Historischen Sozialwissenschaft bleibt bemerkenswerterweise von ihm unerwähnt -, weist er der historischen Komparatistik auch die entscheidende Rolle im Forschungsprozess zu, die vielfältigen Ausprägungen und Erscheinungsformen des Gegenstands "Europäisches Mittelalter" zu aussagekräftigen Synthesen zusammenzubinden.
Es ist sicherlich immer von erheblichem Wert, sich als Wissenschaftler über Grundlagen und Implikationen der eigenen Methodik Klarheit zu verschaffen, auch wenn es sich beim Vergleichen, wie Frank Rexroth in seiner Zusammenfassung so treffend schreibt, eigentlich doch nur um eine elementare gedankliche und deshalb bei Wissenschaftlern allgemein gebräuchliche Operation handelt. Insofern ist es begrüßenswert, dass hier eine in vielen Punkten ausgefeilte Konzeption zur Anwendung der vergleichenden Methode vorgelegt wird. Innerhalb dieser Konzeption sind zwei Bereiche jedoch als problematisch anzusehen, was einer schnellen Etablierung der historischen Komparatistik als verbindliche Forschungsmethode des europäischen Mittelalters entgegenstehen könnte. Welche Funktion soll der Vergleich im Rahmen der Erforschung des europäischen Mittelalters haben? Soll die Funktion eine heuristisch-deskriptive sein, um in dieser Weise kulturelle Unterschiede deutlich zu machen? Oder soll der Vergleich paradigmatisch-analytisch eingesetzt werden und zu Erklärungsmustern führen, an denen einzelne historische Erscheinungsformen gemessen werden könnten? Die von Borgolte evozierte Gefahr, der komparative Zugriff könne zurück zum historischen Positivismus führen, er könne dazu verleiten, historische Phänomene historischen Gesetzmäßigkeiten zu unterwerfen und damit die historische Vielgestaltigkeit der Phänomene unterdrücken, macht deutlich, dass eigentlich nur die heuristisch-deskriptive Funktion angestrebt ist. Ein Vergleich ist jedoch immer nur dann sinnvoll, wenn auch deutlich gemacht wird, was miteinander verglichen und womit es verglichen werden soll. Somit ist die Beschreibung historischer Phänomene mit präzise definierten Begriffen unabdingbare Voraussetzung für den Vergleich, will man über ein bloßes heuristisches Vorgehen hinausgelangen, bei dem möglichst viele Phänomene verglichen werden und als dessen Ergebnis eine diffuse Ähnlichkeit oder Andersartigkeit festgestellt wird. Die Kosten des Vergleichens sind gewissermaßen die vom Historiker häufig als Reduktion der Individualität eines historischen Phänomens empfundene Abstraktion. Ihnen gegenüber steht jedoch der wissenschaftliche Ertrag in Form der erst durch den Vergleich ermöglichten besonderen Würdigung der historischen Individualität eines Untersuchungsgegenstands in Abgrenzung von einer Norm. Neben dieser deutlichen Abgrenzung von paradigmatisch-analytischen Vergleichen erscheint es außerdem problematisch, dass infolge von Borgoltes Definition des europäischen Mittelalters das Resultat des Vergleichens bereits vorgegeben ist: Da das Wesen des europäischen Mittelalters ja definitionsgemäß durch politische, soziale und kulturelle Vielfalt gekennzeichnet ist, können vergleichende Studien keine einheitlichen Entwicklungsmuster zum Ergebnis haben. Ohne Ergebnisoffenheit aber und wenn schon der Vorgang der Abstraktion unter Positivismusverdacht gestellt wird, ist dem historischen Vergleich eigentlich die Basis entzogen.
So erfrischend die thematische und methodische Vielfalt der Beiträge insgesamt zweifelsohne ist, so sehr bleibt in Hinblick auf die Gesamtkomposition des Bandes dennoch ein wenig der Eindruck einer gewissen methodischen und thematischen Beliebigkeit zurück, unter anderem deshalb, weil auf eine konsequente Unterscheidung der verschiedenen Funktionen des historischen Vergleichs verzichtet worden ist. Dabei ist keineswegs die eigentliche, mit der Veröffentlichung verbundene Absicht verfehlt worden, ging es doch zunächst einmal darum, eine erste Skizze möglicher Themen des Vergleichs in einem erweiterten Verständnis vom europäischen Mittelalter zu entwerfen. Fraglich bleibt jedoch, ob es mittels einer thematisch so weiten Konzeption überhaupt gelingen kann, die vergleichende historische Methode als ein Instrumentarium historischer Forschung mit allerhöchstem Erkenntniswert zu etablieren. Vermutlich müsste dazu für zukünftige Publikationen das Thema wesentlich enger eingegrenzt und sehr viel mehr auf ein spezifisches Erkenntnisziel zugeschnitten werden.
Ulf Christian Ewert