Frederick N. Bohrer: Orientalism and Visual Culture. Imagining Mesopotamia in Nineteenth-Century Europe, Cambridge: Cambridge University Press 2003, 398 S., 79 s/w-Abb., ISBN 978-0-521-80657-2, GBP 65,00
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Mit seinem Buch reiht sich Frederick N. Bohrer in die große Zahl der Veröffentlichungen zum Orientalismus ein, deren prominenteste und kontrovers diskutierte Publikation Edward W. Saids "Orientalism" von 1978 ist. Zentrales Thema bei Bohrer ist die Rezeption mesopotamischer Funde seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch Botta, Layard und Koldewey in Frankreich, England und schließlich - zu Beginn des 20. Jahrhunderts - auch in Deutschland. Bohrer bewegt sich in seinem Spezialgebiet: Nach seiner Dissertation zum Thema "A New Antiquity: The English Reception of Assyria", die 1989 an der Universität von Chicago erschien, publizierte er zahlreiche Artikel zu diesem Themenbereich. So erschienen allein in "Culture and History" zwei Aufsätze zur Assyrien-Rezeption [1]. Nach weiteren Artikeln, darunter der Beitrag "Assyrian Revival" im 1996 erschienenen "Dictionary of Art", war seine letzte Publikation hierzu im "Art Bulletin" von 1998 "Inventing Assyria: Exoticism and Reception in Nineteenth-Century England and France" [2].
Dort untersucht er bereits die Rezeption mesopotamischer Funde in der Kunst. Genannt werden auch Thesen wie die unterschiedliche Reaktion der Bevölkerung auf die Artefakte, die nationalen und auch imperialistischen Interessen der Initiatoren der Ausgrabungen, die Abhängigkeit einer Zugänglichkeit der Kunstwerke für eine breite Bevölkerungsschicht von einem ästhetisierenden Interpretationsansatz und schließlich die schwankende Bedeutung der Artefakte vor dem jeweiligen Erwartungshorizont. Neu sind das Kapitel über die Entwicklung in Deutschland wie auch die ausführliche Theoriediskussion. Ebenso kamen Ausführungen zur Rezeption assyrischer Kunst durch Architekten und deren Inszenierungen der Kunst in der Architektur von Weltausstellungsgebäuden sowie einige Passagen zum Einfluss der Fundgegenstände auf Schmuck hinzu. Zudem unterscheidet der Autor zwischen der zuerst gefundenen Chaldäischen Kunst, der Assyrischen und der Persischen sowie den Klischees von männlichen und weiblichen Rollenzuschreibungen in deren Rezeption.
Das in jahrelanger Forschungsarbeit gesichtete, umfangreiche Quellenmaterial umfasst neben englischen, französischen und deutschen Zeitungen und Magazinen des jeweils besprochenen Zeitraumes, neben zeitgenössischen Publikationen und nachträglich veröffentlichter Korrespondenz, vor allem in zahlreichen Archiven in Berlin, Dalheim, Paris und London gesichtetes Material zur Ausstellungs- und Publikumspolitik der Museen. Bohrer macht deutlich, wie das unterschiedliche soziale Gefüge, gesellschaftliche Interessen und die divergierende, teils antiquarische, teils ästhetische Herangehensweise an die Fundstücke deren Rezeption durch die Bildungselite und die Bevölkerung bestimmte.
Während es bei den Ausgrabungen generell um nationale Interessen ging, vor allem im Hinblick auf den Wettlauf um die Verifizierung biblischer Städte und Paläste, unterschied sich die Ausstellungs- und Publikationspolitik in den einzelnen Ländern erheblich. So stieß der durch die Julimonarchie geförderte Franzose Botta auf Grund der Exklusivität seiner Schriften und der Märzrevolution (72-73) auf weit weniger Resonanz als Layard in England, dessen 1849 in London erschienenes Buch "Nineveh and its Remains" von Bohrer "the greatest archeological bestseller of the nineteenth century" genannt wird (4). Nach dem Untergang der Monarchie geriet auch Botta in Vergessenheit, Layard hingegen etablierte seinen Ruhm durch zahlreiche Publikationen (68-69). In Deutschland schließlich, das mit seiner Entdeckung Babylons zeitlich weit hinter den Funden der anderen zurücklag, war trotz der Bemühungen des Direktors der königlichen Sammlungen in Berlin, Delitzsch, die Reaktion der Bevölkerung auf die Funde eher negativ: Was in England unteren Schichten nur restriktiv und nach Protesten der Bevölkerung zugänglich gemacht worden war (109 ff.), wurde in Deutschland wegen der anderen politischen und sozialen Situation von der Presse mit Spott und Feindseligkeit kommentiert (294-295).
Das zentrale Thema ist zwar die Rezeption mesopotamischer Funde des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Bohrer beginnt jedoch mit einer ausführlichen rezeptionstheoretischen Diskussion. Darin schließt er sich Saids These an, der westliche Orientalismus ersetze den Orient. Nachdem John M. MacKenzie in seinem Buch "Orientalism. History, Theory and the Arts" [3] Said, dem er einen Rückgriff auf "elite texts" und eine Vernachlässigung der Populärkultur vorwarf (MacKenzie, Seite 14), scharf angegriffen hat, scheint Bohrers Konzentration auf die unterschiedlichen Interessen von Bildungseliten und niedriger gestellten Klassen fast wie eine Antwort darauf, zumal er trotz einzelner Einschränkungen Saids Werk als "essential touchstone" ansieht (31).
Für die Bedeutung orientalistischer oder "exotistischer" - der von Bohrer bevorzugte Begriff (17) - Interpretationen, bei der Rezeption des Orients in der darstellenden Kunst wie in der zeitgenössischen Presse, beruft er sich auf Saids' Konzept der "vacillation" (32f.). Dies verbindet er mit Homi K. Bhabhas Konzept der Hybridität (34f.) [4] und greift zur näheren Erläuterung auf die Rezeptionstheorie der Frankfurter Schule zurück. Im Verlauf seiner Untersuchung wendet er jedoch insbesondere den von Hans Robert Jauss definierten Begriff des "Erwartungshorizontes" an, demzufolge die Erwartungen eines Betrachters an ein Objekt von dessen jeweiliger Vorbildung und dem kulturellen Hintergrund abhängen. Ferner rekurriert er auf Walter Benjamins "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (22ff.). So bettet er den in der Orientalismusdebatte inzwischen üblichen theoretischen Diskurs in ein rezeptionstheoretisches Umfeld ein und steckt den Rahmen für seinen eigenen Standpunkt ab. Seine Analyse wirkt dabei teilweise affirmativ, ohne dass die wiederholte Bestätigung der Hybriditätstheorie immer notwendig erscheint. Mancherorts reduziert die Vereinfachung der komplexen Zusammenhänge, die zuvor in ihren Facetten aufgefächert analysiert wurden, ihre Bedeutung, ohne sie dabei zu stützen oder durch einen neuen Gedanken zu ergänzen.
Gelegentlich brechen seine unvorsichtige Wortwahl oder überraschende Vergleiche aus der sonst wissenschaftlichen Diskussion aus. So spricht er von dem "Monster" Hybridität (176) oder hält es für nötig, aus dem Namen des Architekten Smirke ein Wortspiel zu machen: Dieser "[...] drew back momentarily from trusting the very system of judgment (smirked at it, one might say) [...]" (212). In Detailfragen schließlich hätte man sich eine genauere Erläuterung gewünscht. So erscheint es unverständlich, warum die Veröffentlichung eines konservative Interpretationsprinzipien vertretenden Reiseberichtes durch Delitzsch ein Zeichen seiner "continuing control under a structure of absolute power" gewesen sein soll, nachdem er sich in Folge heftiger Reaktionen auf einen zuvor veröffentlichten Artikel mit unpopulären Thesen für ein Jahr zurückziehen musste (289, 290, 298).
Jenseits der oben angeführten Kritikpunkte bleibt das wesentliche Verdienst der Arbeit jedoch die durch gründliche Quellenarbeit bestimmte Untersuchung der Rezeption der mesopotamischen Funde in Frankreich, England und Deutschland und ihre Einbettung in den sozialen Kontext. Sie macht das Buch als Grundlage wertvoll und bietet Anstöße für eine weitere Diskussion mesopotamischer Rezeptionsgeschichte, die in Bereichen wie zum Beispiel der Rezeptionsgeschichte in Deutschland, der nur ein Kapitel gewidmet wurde, sicher noch nicht erschöpft ist.
Anmerkungen:
[1] Assyria as Art: "A Perspective on the Early Reception of Ancient Near East Artifacts" in "Culture and History" 4, 1989, 7-33; "The Printed Orient: The Production of A. H. Layard's Earliest Works", in: Culture and History 11, 1992, 85-105.
[2] In: "The Art Bulletin" Bd. 80 Nr. 2, Juni 1998, 336-356.
[3] Manchester u. a. 1995.
[4] Homi K. Bhabha: "The Location of Culture". London, New York: Routledge, 1994, 112ff.
Claudia Postel