Benno Teschke: The Myth of 1648. Class, Geopolitics and the Making of Modern International Relations, London: Verso 2003, XII + 308 S., ISBN 978-1-85984-693-3, USD 35,00
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Die von der London School of Economics and Political Sciences approbierte politikwissenschaftliche Dissertation, auf dem Cover geradezu überschwänglich als "revolutionär", "brillant" und als "triumphaler Erfolg" gepriesen, stellt für den nicht im Zentrum sozialwissenschaftlicher Theoriedebatten stehenden Historiker zunächst einmal ein hartes Brot dar - ich gestehe freimütig, mit einem post-neorealistischen Konstruktivismus (13) nicht gar so viel anfangen zu können. Das Stichwort, auf das hin sich der Rezensent bereit erklärte, diese Besprechung zu übernehmen, war das des "Mythos 1648", an dessen Dekonstruktion und Entmythisierung er nicht unbeteiligt war. Aber bis der Autor, der sich hie und da zumindest in der Nähe des neomarxistischen Lagers zu positionieren scheint, zu dieser Entmythisierung vorstößt, hat sich der Leser durch viel Forschungsgeschichte und die Werkanalyse der Repräsentanten der verschiedenen sozialwissenschaftlichen "Schulen" durchzukämpfen.
Worum geht es dem Autor? Die Annahme, dass mit dem Westfälischen Frieden ein entscheidender Wendepunkt in den internationalen Beziehungen zu datieren sei, die den geschlossenen, souveränen Staat zum alleinigen Akteur der politischen Interaktionen gemacht habe, und dass sich diese Schlüsselrolle des souveränen Staates erst unter dem Einwirken nicht-staatlicher Kräfte auf die globalen Interaktionen auflöse, ist in der Politiktheorie weit verbreitet, ja sozusagen der gemeinsame Nenner ihrer verschiedenen Zweige. Wie problematisch eine solche Holzschnittfiguration ist, habe ich selbst verschiedentlich skizziert, zuletzt in einem Aufsatz in der Historischen Zeitschrift [1], der Teschke leider unbekannt geblieben ist. Teschke greift, um diese als gesichert geltende Position ad absurdum zu führen, weit, bis in die Karolingerzeit, zurück und unterlegt seiner Beweisführung die zentrale These, dass die Veränderungen der geopolitischen Ordnung durch ein Faktum bewirkt würden: nämlich die "social property relations" - zwischen den einzelnen "Klassen", insbesondere Adel und Bauerntum, aber auch zwischen Krone und Untertanenschaft. Diese These, die geradezu in den Rang einer Theorie erhoben wird (7 und öfter), wird dann konsequent vom 8. bis zum 18. Jahrhundert durchgehalten. Eine solche historische longue durée ist grundsätzlich zu begrüßen, weil die Theorie der internationalen Beziehungen seit Kenneth Waltz weitestgehend ohne die Geschichte auskam, aber es liegt auf der Hand, dass im Zuge der Verifizierung einer Theorie vieles über das Skizzenhafte nicht hinausgeht und vor allem die Binnendifferenzierung der europäischen Kulturräume - hier die Iberische Halbinsel, dort Skandinavien, hier Frankreich, dort die italienische Staatenwelt oder Ungarn - fast völlig unterbleibt. Was hervorzuheben ist, ist, dass die von vielen sozialwissenschaftlichen Schulen mit leichter Hand dahingeworfene Annahme von der politischen und sozialen Anarchie im Mittelalter gründlich revidiert wird - freilich zugunsten einer sozialen Konfiguration, in der zum Beispiel Glaube, Jenseitsvorstellungen und Kirche allenfalls am Rand vorkommen. Entscheidend war, so Teschke, dass sich aus einer kaiserlich-hierarchischen Ordnung eine Vielzahl von Akteuren entwickelte, die sich vor allem dynastisch verstanden hätten. Für diesen Prozess der Herausbildung der von den Monarchen und Dynastien her zu verstehenden europäischen Staatenpluralität werden zwar auch andere Erklärungsmodelle diskutiert - etwa das zunächst mit dem Namen Braudels verknüpfte Kommerzialisierungsmodell und die demografische These -, aber letztlich entscheidet sich Teschke eben doch für den seiner Theorie zugrunde liegenden Gedanken. In der Neuzeit habe es dann zwei Optionen für eine internationale Ordnung gegeben, die sich parallel eröffnet hätten: den Übergang vom Feudalismus zum Absolutismus in Frankreich und den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus in England. Diese Zweisträngigkeit zwingt den Autor nun dazu, die "Modernität" des Absolutismus auf den Prüfstand zu stellen - und zu einem vernichtenden Urteil (unter anderem 165) zu kommen. Der Westfälische Friede als das Werk absolutistischer Staaten, die von Klassenkonflikten zerrissen worden seien, nach wie vor dynastisch geprägt waren und die bis zur Französischen Revolution in ihrem krisenhaften Zustand blieben, sei nicht minder "unmodern" gewesen, seine Klassifizierung als "starting point" einer neuen internationalen Ordnung deswegen völlig abwegig.
Ich will gerne einräumen, dass sich diese Quintessenz mit meinen eigenen Überlegungen berührt, die freilich nicht auf einem neomarxistischen Modell fußen. Auch in Bezug auf die Defizite und die Herkömmlichkeit des "absolutistischen" Staats sehe ich vieles ähnlich. Ich würde all das aber nicht ursächlich mit Klassenkonflikten in einen Zusammenhang bringen: dynastischer Wettbewerb, persönliche Rivalitäten, Sicherheitsdenken, Neupositionierungen in einer "flüssig" gewordenen hierarchischen Ordnung und manch anderes wäre hier à fond zu diskutieren gewesen.
Trotz aller Mühe: die Lektüre des Buches, dessen Ausschließlichkeitsthese ich nicht teile, ist keineswegs fruchtlos, weil aus der Perspektive der hier zugrunde liegenden Theorie dieses und jenes neue Licht auf die früh- (beziehungsweise besser wohl: vor-)moderne Staatenwelt fällt und die nur höchst bedingt nach vorn weisenden Bestimmungen des Westfälischen Friedens noch einmal zusammengefasst werden. Dass sich im Literaturverzeichnis (unter anderem "Aretin", nicht "Arentin") und im Text einige sachliche Fehler eingeschlichen haben und man allen Wiederholungen zum Trotz nicht von "ius belli ac pacem" sprechen kann, soll nicht überbewertet werden. Ob sich die "Theorie" auf Dauer durchsetzt, will ich dagegen freimütig mit einem dicken Fragezeichen versehen.
Anmerkung:
[1] Heinz Duchhardt: "Westphalian System". Zur Problematik einer Denkfigur, in: Historische Zeitschrift 269 (1999), 305-315.
Heinz Duchhardt