Jutta Limbach: Die Demokratie und ihre Bürger. Aufbruch zu einer neuen politischen Kultur (= Krupp-Vorlesungen zu Politik und Geschichte; Bd. 4), München: C.H.Beck 2003, 166 S., ISBN 978-3-406-51061-8, EUR 16,90
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Die von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung geförderten "Krupp-Vorlesungen zu Politik und Geschichte" gibt es bereits seit einigen Jahren. Nach Gelehrten von internationalem Rang wie Christian Meier und Ralf Dahrendorf war es im Wintersemester 2002/2003 Jutta Limbach, die mit einer Vortragsreihe zur Lage der Demokratie in der Bundesrepublik ihre Visitenkarte am Kulturwissenschaftlichen Institut des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen abgegeben hat. Diese Vorträge liegen nun in gedruckter Form vor, und es verdient mehr als nur Interesse, wenn sich eine Persönlichkeit wie Jutta Limbach mit diesem Thema auseinandersetzt. Schließlich hat sich die aus einer sozialdemokratischen Familie stammende ehemalige Justizsenatorin des Landes Berlin (1989-1994) als Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts (1994-2002) so großes Ansehen erworben, dass sie einer vom Magazin "Reader's Digest" im August 2002 veröffentlichten repräsentativen Umfrage zufolge für rund ein Drittel der Befragten als ideale Kandidatin für das Amt des Bundeskanzlers galt und auch wiederholt als mögliche Bundespräsidentin gehandelt wurde.
Jutta Limbachs Thema ist die demokratische Bürgergesellschaft, ihr Anliegen, möglichst viele Menschen zu einem Engagement für die res publica zu gewinnen, ohne das ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen in ihren Augen auf Dauer auch dann nicht auskommt, wenn seine Institutionen intakt sind. In diesem Sinne plädiert sie für streitbare Einmischung und die Verteidigung der Freiheit ebenso wie für Toleranz und Solidarität und sieht in dem, was man gemeinhin die neuen sozialen Bewegungen nennt, den Wurzelgrund für eine gefestigte und lebendige Demokratie.
Wohl gemäß der Anlage der Vortragsreihe gliedert sich das hier zu besprechende Buch in sechs Kapitel. Im ersten Kapitel ruft die Autorin ihren Leserinnen und Lesern die wichtigsten Maximen des Grundgesetzes ins Gedächtnis und verteidigt es gegen all jene hemdsärmligen Kritiker, die in der Verfassung der Bundesrepublik nicht mehr sehen wollen als ein nicht mehr zeitgemäßes Auslaufmodell und ein Hindernis für die rasche Modernisierung des Standortes Deutschland.
Dann widmet sie sich der Entwicklung der politischen Kultur in der Bundesrepublik, die sie als Weg von der Untertanen- zur Staatsbürgerkultur beschreibt. In diesem Kapitel werden Stärken und Schwächen des Buches exemplarisch deutlich. Wo sich die Autorin auf ihrem Feld bewegt, Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts analysiert oder politische Entwicklungen an der Verfassung und ihren Wertmaßstäben misst, ist es auch dort von einer souveränen Klarheit, wo man die Wertungen die Autorin nicht teilen mag. Doch wo sie ihr Terrain verlässt oder zu historischen Exkursen ansetzt, geht diese Souveränität leicht verloren, wie sich etwa bei der Beschreibung der fünfziger Jahre, der Interpretation der Spiegel-Affäre oder der Bewertung der Studentenbewegung zeigen ließe.
Kapitel III - "Demokratie: Elitenkartell oder Bürgerprojekt?" - ist so etwas wie der Kern des Buches, das nicht nur das (basis-)demokratische Credo der Autorin, sondern auch ihr Plädoyer für die Aufnahme plebiszitärer Elemente ins Grundgesetz enthält. Bei der Abwägung des Pro und Contra vermisst man jedoch einen Blick auf die Erfahrungen, die man in Bundesländern wie Bayern auf Landes- und Gemeindeebene mit den Instrumenten direkter Demokratie gemacht hat, wie man überhaupt sagen muss, dass Länder und Gemeinden als Orte von Partizipation und demokratischer Auseinandersetzung für Jutta Limbach kaum der Erwähnung wert sind.
Die Kapitel IV bis VI sind - wenn auch jeweils in größere Zusammenhänge eingebettet - aktuellen Fragen gewidmet. Das vierte Kapitel setzt sich mit den Grundzügen einer europäischen Verfassung auseinander und ist trotz des vorläufigen Scheiterns der diesbezüglichen Bemühungen nach wie vor lesenswert. Kapitel V beschäftigt sich dagegen mit dem Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit, insbesondere in Zeiten terroristischer Bedrohung, wobei die Autorin auf die überragende Stellung der Freiheitsrechte in der Demokratie hinweist, die es auch und gerade in schwierigen Zeiten zu verteidigen gelte. In Kapitel VI nimmt Jutta Limbach schließlich zur Bedeutung der Toleranz in einer multikulturellen Gesellschaft Stellung. Sie thematisiert vor allem den Umgang mit der muslimischen Minderheit und macht kein Geheimnis daraus, dass sie einem liberaleren Kurs den Vorzug geben würde, wie etwa ihre Ausführungen zum Kopftuch-Streit zeigen. Allerdings drängt sich hier zuweilen der Eindruck auf, dass es der Autorin nicht unbedingt liegt, aus den luftigen Höhen des Verfassungsrechts und schön zu lesender normativer Postulate in die Niederungen konfliktreicher Integrationsprozesse hinabzusteigen.
Müsste man sein Urteil in einem Satz zusammenfassen, so könnte man bilanzieren: Alles in allem hat Jutta Limbach ein lesenswertes Buch geschrieben; ein großer Wurf ist ihr freilich nicht gelungen.
Thomas Schlemmer