Jörg Muth: Flucht aus dem militärischen Alltag. Ursachen und individuelle Ausprägung der Desertion in der Armee Friedrichs des Großen. Mit besonderer Berücksichtigung der Infanterie-Regimenter der Potsdamer Garnison (= Einzelschriften zur Militärgeschichte; 42), Freiburg/Brsg.: Rombach 2003, 213 S., ISBN 978-3-7930-9338-1, EUR 19,80
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Die Beschäftigung mit Desertion und anderen dysfunktionalen Erscheinungen in den Armeen der Frühen Neuzeit erfreut sich seit einigen Jahren im Bereich der "neuen Militärgeschichte", die sich ja unter anderem auch als "Militärgeschichte von unten" versteht, großer Beliebtheit. Michael Sikora hat die bis dahin oft genug klischeebeladene und in vielerlei Richtungen pauschalisierende Behandlung des Massenphänomens Fahnenflucht in seiner gelungenen Kölner Dissertation für das 18. Jahrhundert sachlich und ohne betuliche Parteinahme auf eine neue Grundlage gestellt; der von ihm gemeinsam mit Ulrich Bröckling herausgegebene Sammelband konnte schließlich nicht nur den zeitlichen Rahmen beträchtlich erweitern, sondern als erschwingliches Taschenbuch auch einen deutlich breiteren Leserkreis erreichen. [1]
Sikoras Doktorarbeit wie auch die Einzelbeiträge des Sammelbandes synthetisieren in erster Linie die gedruckten Quellen und die Sekundärliteratur. Insofern sind aus unveröffentlichtem Archivmaterial gearbeitete Detailstudien natürlich stets willkommener Anlass, die Haltbarkeit solch "großer Würfe" zu überprüfen. Die schön ausgestattete Arbeit von Jörg Muth scheint zunächst genau das am Beispiel der Potsdamer Garnison versuchen zu wollen. Der Autor interessiert sich für die Frage, "weshalb Soldaten desertierten und wer diese Männer waren, aber auch, warum die Mehrzahl unter größten Strapazen - vor allem im Krieg - bei ihrem Regiment blieb und nicht fahnenflüchtig wurde" (13). Muth geht es nach eigenem Bekenntnis nicht um eine (angesichts dramatischer Quellenverluste kaum mögliche) quantitative Annäherung an sein Thema, sondern um einen qualitativen Zugang.
Aufbau und Gliederung der Studie sind militärisch klar und überzeugend, weniger befriedigend ist leider oft, wie und womit die Kapitel und Unterkapitel bestückt werden. Nach einem Rückblick auf die bisher zum Thema geleistete Forschung folgt ein (vielleicht doch besser am Schluss der Studie zu platzierender) Exkurs über die Armeen Frankreichs, Russlands und Österreichs (Kapitel II), der streckenweise mit einem gewissen Hang zu Simplifizierungen im Stile anglo-amerikanischer 'text books' recht klischeehaft ausfällt und zudem nicht immer auf der wirklich relevanten Literatur basiert. So können grundsätzliche Missverständnisse (wie etwa zum Heeresergänzungssystem der Habsburgermonarchie) nicht ausbleiben.
Daran schließen mehr als 40 ambitionierte Seiten zu Struktur und Alltagswirklichkeit des preußischen Heeres (Kapitel III) an: über die Motive für die freiwillige Verpflichtung, über gewaltsame Werbung, das Kanton- und Urlaubssystem, die zahlreichen Exemtionen, den inneren Dienst und die harsche Disziplin, die Lebenshaltungskosten, das Quartierwesen, Soldatenehen, die Veteranen- und Invalidenversorgung, das Verhältnis Inländer - Ausländer und die einzelnen Waffengattungen. Was wie eine enzyklopädische Geschichte der altpreußischen Armee anmutet und als handliche Einführung sicher Lob verdient, gerät für den Kundigen insgesamt doch zu kursorisch, der jeweils rasche Übergang zum nächsten Thema lässt den Leser meist hungrig zurück. Alleine aus der reichen militärhistorischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts hätte sich dieser Abschnitt sicher noch viel dichter gestalten lassen.
Erst auf Seite 85 - der Hauptteil des Buches zählt dabei nur knapp 140 Seiten - wendet sich Muth seinem eigentlichen Thema, der Desertion im preußischen Heer insgesamt, zu (Kapitel IV). Auf Schritt und Tritt macht sich das grundsätzliche Dilemma preußischer Militärgeschichte bemerkbar: die Vernichtung des preußischen Heeresarchivs in Potsdam im April 1945. Das Potsdamer Stadtarchiv und das Brandenburgische Landeshauptarchiv, aus deren Beständen Muth ergänzende Informationssplitter schöpft, schaffen hier natürlich keinen wirklichen Ersatz. Warum militärische Schriftgutreste des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Dahlem nicht herangezogen wurden, vermag der Rezensent nicht zu entscheiden. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass Kapitel IV gleichfalls überwiegend auf Literatur (wobei freilich das Fehlen wichtiger Titel zum preußischen Kantonsystem einigermaßen überrascht) und gedruckten Quellen basiert und das Urteil über Kapitel III auch hier gelten muss: die wieder sehr gelungene Gliederung (1. Beweggründe für Desertion: schlechte Versorgung, Verstöße gegen den Dienstvertrag, Zwangseingliederung von Fremdtruppen wie im Falle Sachsens 1756, Unterschlagungen der Kompaniechefs, familiäre Motive, professionelle Geschäftemacherei mit Handgeld; 2. Maßnahmen gegen die Desertion: Auslieferungsabkommen mit anderen Mächten, Einbindung der Bevölkerung in die Jagd auf Deserteure, Prävention im militärischen Alltag durch scharfe Überwachung und Androhung strengster Strafen, aber in der Rechtswirklichkeit dann auch Pardonnierung von Deserteuren durch Individual- und Generalpardons) kann nicht wirklich mit neuen beziehungsweise weiterführenden Inhalten gefüllt werden.
Mit Kapitel V (113 ff.) über die in Potsdam garnisonierenden Regimenter scheint Muth dann endlich zur Fallstudie im eigentlichen Sinn zu kommen. Leider tritt aber selbst in diesem Abschnitt letztlich das Themenspezifische hinter relativ allgemeinen Ausführungen über die Einheiten, ihre "nationale" Zusammensetzung und ihre Kriegsverluste sowie über das Garnisonsleben und Quartierwesen in Potsdam insgesamt zurück. Inwieweit die Friedensgarnison Potsdam als zentrale königliche Residenz und daher als Stationierungsbereich von Eliteeinheiten überhaupt als brauchbares Fallbeispiel und als Aufhänger für Generalisierungen zum Thema dienen kann, soll dahingestellt bleiben.
Alles in allem löst die Studie Muths - entgegen der erklärten Absicht des Autors, gegen bisherige Pauschalurteile das Phänomen der Desertion zu "individualisieren" - das Thema Fahnenflucht eher in einer allgemeinen Geschichte der friderizianischen Armee auf, anstatt es schärfer zu konturieren. Trotz der schlechten Quellenlage scheut der sichtlich um eine Ehrenrettung der altpreußischen Armee sehr bemühte Autor vor kühnen Hochrechnungen und "revisionistischen" Schlussfolgerungen nicht zurück; da sie in der Darstellung selbst kaum quellenmäßige Deckung finden, wirken sie umso peremptorischer und überzeugen auch nicht wirklich. Muth geht dabei deutlich über die spätestens seit den Arbeiten von Ralf Pröve zur hannoverschen Garnisonsstadt Göttingen weitgehend durchgesetzte Abkehr vom Klischee des geprügelten und entrechteten Söldners des Ancien Régime sowie die mittlerweile fast schon modische Ablehnung der Militarisierungsthese von Otto Büsch hinaus. Engagiert kämpft er gegen das seiner Meinung von Privatschriftstellern wie U. Bräker, von den preußischen Reformern nach 1807 und einer übertriebenen Konzentration späterer Forschung auf das 18. Jahrhundert verzerrte Negativbild an. Seiner Ansicht nach zeichnete die preußischen Soldaten, auch die "Ausländer" unter ihnen, in ihrer Verehrung für den selbst stets Uniform tragenden obersten Kriegsherrn, die "allgegenwärtige Integrationsfigur" Friedrich II. (selbst einst als "Deserteur" von seinem Vater verfolgt und verurteilt), eine in der Summe durchaus befriedigende Kampfmoral aus. Der Soldatenberuf besaß in Preußen nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen beträchtliche Attraktivität, die Beziehungen zwischen Militär- und Zivilbevölkerung gestalteten sich, so Muth, in Preußen enger als bei anderen Mächten, der Militärdienst befreite den Landmann, wie der Autor im Gefolge Hans Bleckwenns ausführt, bis zu einem gewissen Grad aus der dumpfen Hörigkeit Ostelbiens und schließlich: das "Entlaufen" war kein rein militärisches Phänomen, sondern lässt sich durchaus auch im zivilen Bereich nachweisen. Für Preußen wurde, wie Muth meint, der Desertion vor allem deswegen so große Bedeutung zugemessen, weil hier angesichts schwacher Bevölkerungszahlen jeder verlorene Mann doppelt, ja dreifach wog. "Die Desertion in der Armee Friedrichs des Großen erweist sich als eine persönliche Angelegenheit, die auf situationsgebundener, individueller Entscheidung beruht und nicht strukturell zu determinieren ist" (177).
Anmerkung:
[1] Michael Sikora: Disziplin und Desertion. Strukturprobleme militärischer Organisation im 18. Jahrhundert, Berlin 1996; Ulrich Bröckling / Michael Sikora (Hg.): Armeen und ihre Deserteure. Vernachlässigte Kapitel einer Militärgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1998.
Michael Hochedlinger