Lothar Sickel: Caravaggios Rom. Annäherungen an ein dissonantes Milieu, Emsdetten / Berlin: edition imorde 2003, 267 S., 41 Abb., ISBN 978-3-9805644-5-8, EUR 24,90
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Laut Giulio Mancini, dem ersten Biografen Caravaggios (1571-1610), verlief der Karrierestart des Künstlers in Rom alles andere als fulminant: Nach seiner Ankunft in der Ewigen Stadt sei der zwanzigjährige Maler im Haushalt des Pensionärs Pandolfo Pucci untergekommen, wo er für niedrige Arbeiten nichts anderes als ein Dach über dem Kopf und immer wieder nur Salat als Mahlzeiten vorgesetzt bekommen habe. Wenig verheißungsvoll mutet auch der schwierige Charakter an, den die Vitenschreiber des 17. Jahrhunderts dem lombardischen Künstler unisono attestieren: Caravaggio sei "extravagant" (Mancini), "liederlich" (Baglione), "ruhelos" (Bellori) und "sehr zänkisch und seltsam" (Sandrart) gewesen. Gleichwohl schaffte es der offenbar schwer sozial verträgliche Maler, binnen der nächsten Jahre in den höchsten römischen Kreisen Bewunderer, Gönner und Käufer zu gewinnen. Zu seiner Klientel gehörten Kardinäle, Bankiers, Mitarbeiter der Apostolischen Kammer und Abkömmlinge aus altem römischem Adel. Um 1600 erzielte Caravaggio für seine Bilder bereits Summen, die ihm ein komfortables Leben in einem eigenen Haus mit Diener und Werkstattgehilfen ermöglichten.
Lothar Sickel hat es sich in seinem als "Schönstes wissenschaftliches Sachbuch der Frankfurter Buchmesse 2003" ausgezeichneten Werk nun zur Aufgabe gemacht, diesen Aufstieg des Malers nachzuzeichnen. Methodisch reiht sich diese Studie somit in die von Francis Haskell begründete Tradition ein, aus der mittlerweile mehrere Untersuchungen über das klienteläre Verhältnis zwischen barocken Künstlern und ihren Auftraggebern und Abnehmern hervorgegangen sind. Erinnert sei in diesem Zusammenhang etwa an die Arbeit von Jörg Martin Merz über Pietro da Cortona oder aber auch an Arne Karstens neulich erschienene Studie "Künstler und Kardinäle".
Mit viel Sachkenntnis und gestützt auf bisher unpubliziertes Quellenmaterial entwirrt Sickel umsichtig und leicht verständlich die Fäden von Caravaggios Patronagenetz. Dabei geht es dem Autor in erster Linie darum, einigen Käufern von Caravaggios Kunst ein Gesicht zu geben und ihre Intentionen, die sie mit dem Erwerb dieser revolutionären Kunst verbunden haben könnten, deutlich zu machen. Darüber hinaus ist es ihm ein Anliegen, das in der modernen Forschung gängige Diktum vom entscheidenden Einfluss des borromäischen Kreises und der volksnahen Oratorianer auf Caravaggios Bildfindungen zu relativeren. Caravaggio war, so Sickels Hauptthese, gezwungenermaßen ein Maler vieler Herren und die Absichten, die sie mit der Bestellung oder dem Kauf von Bildern des Künstlers verbanden, konnten sowohl profan als auch religiös motiviert sein. Diese Dissonanz, wie es der Autor nennt, machte das Milieu aus, in dem Caravaggios tragische Erfolgsgeschichte ihren Anfang nahm, und auf diese unterschiedlichen Ansprüche wusste der Künstler auch inhaltlich und formal zu reagieren.
Caravaggios von so vielen Mythen und Präjudizien überlagertes Leben und Schaffen will Sickel also auf den Boden der Realität zurückzuholen. Er geht dieses Vorhaben sehr geschickt an, indem er nicht auf die dominanten und ihrerseits mit Anekdoten vorbelasteten Figuren, wie etwa den berühmten Kardinal Del Monte, sondern auf eher unscheinbare Auftraggeber und Käufer Caravaggios fokussiert.
Nach einem erhellenden Kapitel über die vielfältigen Verstrickungen von Caravaggios frühen Auftraggebern und Sammlern, die mehrheitlich durch ihre Tätigkeit an der Apostolischen Kammer und durch andere soziale und verwandtschaftliche Kontakte sowie durch ihren Umgang mit dem frühen Caravaggio-Agenten und Maler Prospero Orsi miteinander bekannt waren, präsentiert Sickel mit Gerolamo Vittrici einen der engagiertesten Förderer des jungen Caravaggio. Vittrici, der als päpstlicher Kustode "in eher bescheidenem Wohlstand lebte" (59), beherbergte in seinem durchschnittlichen Patrizierhaushalt eine der bedeutendsten Kollektionen von Caravaggios Frühwerken ("Wahrsagerin", "Flucht nach Aegypten", "Reuige Magdalena"). Während sein Onkel und Protektor Pietro Vittrici enge Beziehungen zu den Oratorianern unterhielt, sind solche Affinitäten von Gerolamo nicht bekannt. Die vermutlich von ihm geführte Ausstattung der Familienkapelle in der Chiesa Nuova mit Caravaggios "Grablegung" ist daher laut Sickel nicht primär im Umfeld der Bruderschaft um Filippo Neri, sondern vielmehr als erneuter Auftrag des passionierten Caravaggio-Sammlers Gerolamo Vittrici zu sehen. So verhalf nicht allein die Liberalität und Prominenz eines Kardinal Del Monte, sondern eben auch das Engagement solcher weniger begüterter Förderer Caravaggios Kunst zum Durchbruch und sicherte ihm die Existenz. Dass Gerolamos Sohn, Alessandro Vittrici, keine fünfzig Jahre später einen Großteil der Caravaggio-Sammlung seines Vaters der regierenden Pamphilj-Familie als Dank für seine Ernennung zum Gouverneur von Rom überließ, ist dabei weitaus mehr als ein pikanter Nachtrag. Einmal mehr zeigt dieses Beispiel, dass in der Regel nicht allein Passion, sondern mindestens ebenso sehr auch Kalkül ein steter Faktor im römischen Kunstbetrieb war.
In den beiden nachfolgenden Kapiteln nimmt sich Sickel der Auftragslage und Genese derjenigen Werke an, die Caravaggios endgültigen Durchbruch in Rom besiegeln sollten: seine Gemälde der Matthäus-Vita für die Contarelli-Kapelle in S. Luigi dei Francesi und der "Siegreiche Amor", den er für den päpstlichen Depositar Vincenzo Giustiniani malte. Anders als in den vorangegangenen Abschnitten konzentriert sich Sickel nun nicht mehr allein auf die Umstände, die zur Ausführung der Gemälde führten, sondern er unterzieht die Bilder einer eingehenden ikonologischen Prüfung und setzt sie in eine - mitunter etwas gewagte - inhaltliche Relation zu den jeweiligen Stiftern und Auftraggebern. Das trifft besonders für den Matthäus-Zyklus zu, in dem laut Sickel unterschwellig auch ein satirischer Seitenhieb Caravaggios auf das ungebührliche Finanzgebaren des ursprünglichen Kapellen-Stifters mitschwinge: Mit dem Evangelisten teile Contarelli nicht nur seinen Vornamen, sondern auch die Gabe des Geldeintreibens.
Auch im Fall des "Siegreichen Amors", der sich laut einer Beobachtung Sickels angeblich über einem Sternenglobus, der stark an das Wappen der Aldobrandini erinnere, erleichtere und somit wie eine bildliche Umsetzung der oftmals derben Pasquinaten gegen die herrschende Papstfamilie daherkomme, scheinen zumindest Vorbehalte angebracht. Man stellt sich ernsthaft die Frage, wie der aufs Engste vom Papst abhängige Auftraggeber mit einer solch unverschämten Provokation umgegangen sein soll. Darüber hinaus kommt es auch vor und nach dem Regiment der verhassten Aldobrandini häufig zu Darstellungen, in denen der christliche oder allegorische Triumphator auf dem Sternenglobus sitzt oder über ihm steht.
Nachvollziehbar und für das römische Ambiente exemplarisch hingegen ist dann das abschließende Kapitel über den römischen Patrizier Massimo de'Massimi, der fast zeitgleich bei il Cigoli und Caravaggio religiöse Bilder in Auftrag gab. Geschickt wägt Sickel die Ambivalenz von Frömmigkeit und profaner Lust an guter Kunst ab, die den Auftraggeber zu seiner Bestellung bewogen haben mögen. Hier, wie auch im Kapitel über Gerolamo Vittrici, vermag der Autor den Käufern von Caravaggios Bildern deutliche Konturen zu geben und sie in ihrer Vielschichtigkeit "tra il devoto e il profano" zu schildern.
So gibt Lothar Sickels Buch einen interessanten und neuen Einblick in den römischen Mikrokosmos von Kunstliebhabern und Förderern eines noch jungen und nicht gerade einfachen Malergenies. Wie schon der Untertitel des Buches andeutet, versteht sich das Werk als Annäherung und nicht als Überblick über die entscheidende Dekade in Caravaggios Karriere. Dafür ist es auch viel zu kurz und die Bibliografie trotz beeindruckendem Fußnotenapparat allzu selektiv.
Nicht zuletzt aufgrund der schwierigen Quellenlage tritt der Künstler selbst eher im Hintergrund auf und wenn, dann doch eher in der negativen Konnotation. Vielleicht wäre es der Mühe wert gewesen, auch einen Blick auf die Situation von Caravaggios Kollegen zu werfen, denn diese waren, wie die Gerichtsakten zeigen, beileibe kaum weniger streitsüchtig und extravagant als der Lombarde. Die Avantgarde schockiert nun mal seit jeher gerne, aber das schließt keineswegs aus, dass sich - damals wie heute - nach außen hin biedere Kunstliebhaber für ihre provokanten und noch vergleichsweise günstigen Arbeiten interessieren und ihnen dadurch eine Existenzgrundlage jenseits von schäbigen Absteigen und billigem Salat ermöglichen.
Matthias Oberli