Gerhard Lohse (Hg.): Aktualisierung von Antike und Epochenbewusstsein. Erstes Bruno Snell-Symposium der Universität Hamburg am Europa-Kolleg (= Beiträge zur Altertumskunde; Bd. 195), München: K. G. Saur 2003, 428 S., ISBN 978-3-598-77807-0, EUR 92,00
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Der Sammelband vereinigt die Referate, die anlässlich des ersten Bruno Snell-Symposions der Universität Hamburg am Europa-Kolleg im Juni 1999 gehalten wurden. Der Herausgeber hat sich die schwierige Aufgabe gestellt, mit dem Kolloquium einerseits an die von Bruno Snell mitgetragene geistesgeschichtliche Auseinandersetzung mit der Antike anzuknüpfen, andererseits in einem interdisziplinär angelegten Zugriff einen Beitrag zur "gegenwärtige[n] kulturwissenschaftliche[n] Debatte" zu leisten (32). Dieser gewagte Spagat ist im Wesentlichen gelungen: Die Beiträge stellen eine interessante Ansammlung aus traditionellen, vornehmlich ideengeschichtlich geprägten Zugängen sowie aus Aufsätzen, die sich mit aktuellen Tendenzen in den Kulturwissenschaften auseinander setzen, dar. Damit scheint der Band gleichzeitig aber auch den aktuellen Stand der Antikerezeption und der wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihr zu spiegeln: Ein einheitliches, methodisch-theoretisches Instrumentarium ist noch in weiter Ferne, und auch die Hoffnung des Herausgebers, die Aktualisierung von Antike im Kontext des jeweils zeitgenössischen Epochenbewusstseins untersuchen zu können, hat sich nur sehr partiell erfüllt. Antikerezeption und die entsprechenden Forschungen auf diesem Gebiet leiden weiterhin, so hat es den Anschein, unter einer beträchtlichen Zersplitterung (Lohse hält zu recht fest: "Antikerezeption [...] war nie ein homogenes Phänomen", 33), die den Blick auf epochal geleitete Rezeptionsprozesse eher verdeckt als fördert. Da nützt auch Lohses Hinweis auf "die epochale Verstricktheit von Tradition" (21) nicht viel, weil - im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der Antike - für die Nachantike noch keine klar konturierbaren 'Epochen' sichtbar werden. Natürlich lassen sich einzelne Phasen, Konjunkturen und Flauten herausarbeiten, wie Lohse es in seinem einleitenden Überblick anschaulich demonstriert (16 ff.) - aber um 'Epochenbewusstsein' und 'Aktualisierung von Antike' in ein heuristisch fruchtbares Verhältnis treten zu lassen, genügt dies noch nicht. Stattdessen werden weiterhin antike Autoren oder Motive auf ihrem Weg bis in die Moderne verfolgt, und es wird nach Gründen für besondere Aktualität beziehungsweise den Verlust derselben gefragt.
So zeigt etwa Martin Hose (269-283), wie der im 18. Jahrhundert als 'Aufklärer' beliebte Euripides im 19. Jahrhundert allmählich aus der Mode kam, und Joachim Dingel (389-402) illustriert anschaulich das Ringen um einen zeitgemäßen Zugang zu einer wirkmächtigen Maxime des Horaz, die heute zwar befremdlich wirkt, deren Status als 'Klassiker' man aber nicht aufgeben will - was zu teilweise abenteuerlichen Neuinterpretationen (D. Lohmann) geführt hat. [1] Daneben werden die ihrerseits bereits klassischen Heroen der Antikerezeption abgehandelt, und vor dem Leser schreiten einmal mehr bekannte Figuren wie Petrarca, Gibbon, Winckelmann, Humboldt, Wagner, Nietzsche und so weiter einher. Dass das Spektrum dabei durch Personen erweitert wird, die bislang eher selten auf ihren Zugang zur Antike untersucht worden sind, wie etwa Heinrich Heine, Novalis und Horst Stern, ändert am Grundsätzlichen dieses Befundes nur wenig. Die Beschäftigung mit Antikerezeption tendiert weiterhin zur Auseinandersetzung mit einzelnen Rezipienten, deren Aktivitäten dann oft vorschnell als exemplarisch für 'Epochen' oder gar diese definierend erscheinen.
Erfreulich ist, dass es aber durchaus auch Ansätze gibt, diese enge (und - um Missverständnissen vorzubeugen - keinesfalls überflüssige) Sichtweise um breiter angelegter Zugriffe zu bereichern. So gelingt etwa Solveig Malatrait (63-95) ein ausgezeichneter Überblick über die Konstruktion von Antike und ihre Instrumentalisierung im Diskurs um die 'korrekte' Tragödie im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Ebenso kann Lambert Schneider zeigen, wie in der Architektur Amerikas im frühen 19. Jahrhundert deutliche Tendenzen eines ausgesprochen selbstbewussten Umgangs mit klassisch-griechischen Vorbildern auszumachen sind, die keinesfalls auf eine demütige Verehrung schließen lassen und offenbar auch nicht von der demokratischen Ordnung des klassischen Athen inspiriert sind (143-178). Schließlich gelingt es Jochen Meissner (199-246) in einem methodisch vorbildlich argumentierenden Beitrag zu veranschaulichen, dass der Antike-Vergleich beziehungsweise die geläufigen Antike-Metaphern keineswegs eine originäre Amerikarezeption verhindert haben, sondern dass der Antike-Diskurs vielmehr schon im 16. Jahrhundert gezielt dazu eingesetzt werden konnte, um mithilfe des "etablierte[n] Referenzsystem[s] der klassischen Texte [...] die Neue Welt in den europäischen Erfahrungshorizont zu holen" (Las Casas). Und bemerkenswerter Weise scheint "seit dem 19. Jahrhundert [...] dieses Potenzial in vielen Hinsichten stillgelegt worden zu sein" (245).
Trotz dieser richtungweisenden Ansätze bleibt das Problem der Konstituierung von 'Epochen' bestehen. Es beginnt bereits mit der Frage, wann kontinuierlich stattfindende Rezeptionsprozesse aus der Antike heraustreten und ihrerseits als Antikerezeption beschrieben werden können. Wenn zum Beispiel Horaz mit seinem berühmt-berüchtigten "dulce et decorum est pro patria mori" auf den griechischen Lyriker Tyrtaios (2. Hälfte 7. Jahrhundert vor Christus) anspielt, so handelt es sich klar um einen Rezeptionsprozess innerhalb der Antike. Wie aber ist der von Stefan Timm vorgestellte Fall eines Ortes im Ostjordanland (Mu'ta) einzuordnen, der schon im 6. Jahrhundert nach Christus (Stephanos von Byzanz, basierend auf Ouranios) aufgrund seines Namens mit dem Tod in Verbindung gebracht wurde und dann angeblich im 7. Jahrhundert zum Schauplatz eines Martyriums muslimischer Kämpfer avancierte, was wiederum nur in späten Quellen bezeugt ist (45-61)? Die Todessymbolik des Ortes bezog sich jedenfalls fortan auf dieses Martyrium und erklärte so den auf Tod verweisenden Ortsnamen. Als aus diesem Anlass 1981 eine Universität in Mu'ta gegründet wurde, war die bei Stephanos / Ouranios bezeugte Verbindung dieses Ortes mit dem Tod bereits aus der Erinnerung der ansässigen Bevölkerung verschwunden - zu Gunsten der muslimischen Legende. Der Fall bietet ein anschauliches Beispiel für Rezeptionsprozesse, die schon in der Antike angelegt sind, später fortgeführt beziehungsweise überlagert werden und sich schließlich verzweigen respektive in verschiedener Hinsicht verselbstständigen. Kann aber mit Blick auf die Tradition von Mu'ta und seiner Todessymbolik dann überhaupt noch von Antikerezeption im engeren Sinne gesprochen werden? - Auf der anderen Seite der von Lohse angesprochene Fall Petrarcas: "Die Geschichte des klassischen Rom ist für Petrarca noch gar nicht abgeschlossen" (17). Wer definiert im Hinblick auf Rezeptionsprozesse also letztlich die Grenzen der Antike?
Man wird vor diesem Hintergrund nicht umhinkommen, einen stark konstruktivistischen Antike-Begriff für Rezeptionsprozesse anzusetzen. Denn das Spektrum kann durchaus bis zur ganz subjektiven Schöpfung einer Antike durch den Einzelnen reichen, wie Martin Schierbaum am Beispiel Friedrich von Hardenbergs erläutert (247-267). Dieser Subjektivismus gerade im Umgang mit der Antike impliziert eine hohe Wandelbarkeit von Antikebildern, die letztlich die Konstituierung von 'Epochen' der Rezeption zusätzlich erschweren. Dass dabei insbesondere in Deutschland seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts phasenweise ein stark ästhetisch geprägtes Bild von der Antike vorherrschte, das bis heute - auch im vorliegenden Band - fassbar ist (F. Schuh, 285-325), stellt nur eine Spielart dar, die in der Forschung allerdings eine besondere Aufmerksamkeit gefunden hat, weil von ihr Verbindungslinien zum Nationalsozialismus gezogen worden sind. Gegen entsprechende Thesen versuchen Kjeld Matthiessen (179-197) und Martin Schierbaum (siehe oben) zu argumentieren, während Robert Olwitz (351-372) mit seiner unter anderem auf den Arbeiten Wolfgang Schadewaldts basierenden These einer "Brechung der Kunst ins Totale, ins Totalitäre" (363) bei Richard Wagner gerade diese Vorwürfe gegen den Dichterkomponisten von neuem aktualisiert, obwohl doch Schadewaldt mit seinem Versuch, die Bedeutung des Germanentums bei Wagner zu Gunsten seiner Griechenrezeption zu minimieren, genau das Gegenteil angestrebt hatte. [2] Olwitz irrt im Übrigen, wenn er glaubt, Wagner habe die Antike als "Ursprungsmythos Europas" konzeptualisiert (351 f.). Wagner verstand sehr wohl, zwischen der griechischen Geschichte und Elementen des griechischen Mythos, den er vor allem durch die Tragödie vermittelt sah, zu unterscheiden.
Die Antike, so scheint es nach der Lektüre des Bandes, wurde und wird vor allem in ästhetischen und politischen Kategorien gefasst. Seltener sind da Hinweise auf den Einsatz von Antike beziehungsweise Antikediskursen als Kommunikationsmedium, wie sie zum Beispiel Gerhard Lohse gibt, der zeigt, wie Goethe einen klassischen Topos der antiken Literatur in seinen Werther-Roman aufgenommen hat, um sich selbst von der Titelfigur ironisch zu distanzieren (97-121), oder wie sie auch Jochen Meissner (siehe oben) anspricht, wenn er zeigt, wie über das Medium der Antike über Amerika kommuniziert wurde. Auffällig ist des Weiteren, dass im deutschsprachigen Raum die Auseinandersetzung mit der griechischen Antike gegenüber dem römischen Altertum erheblich überwiegt. Dieser Befund spiegelt sich auch in der thematischen Anordnung der Beiträge, und auch er mag ein Indiz dafür sein, dass das klassisch-ästhetische Bild einer erhabenen griechischen Antike, wie es sich im 18. Jahrhundert etabliert hat, noch immer nachwirkt. Jedenfalls gilt der einzige Beitrag, der sich dezidiert mit der Rezeption der römischen Antike beschäftigt, dem englischen Historiker Edward Gibbon. Norbert Finzsch (123-141) erläutert dabei einmal mehr den bekannten Sachverhalt, dass "Gibbon zwar ein Meisterwerk über den Niedergang des römischen Reiches geschrieben hat, dass er mit diesem Weltreich aber auch immer seinen eigenen Staat meinte und diese metonymische Vertauschung von seinen Zeitgenossen auch so verstanden wurde" (123). [3]
Der Band bietet nicht nur instruktive Einzelstudien, sondern auch einen anschaulichen Überblick über den derzeitigen Stand der Forschungen zur Rezeption der Antike. Schade nur, dass der Leser immer wieder über ärgerliche Schlampereien in der äußeren Gestaltung der Texte stolpern muss, von denen die Trunkierung Winckelmanns zu Winkelmann (180, 184) nur eine ist.
Anmerkungen:
[1] Vergleiche D. Lohmann: "Dulce et decorum est pro patria mori". Zu Horaz c. III 2, in: Kollegium und Verein der Freunde des Uhland-Gymnasiums Tübingen (Hg.): Schola Anatolica. Freundesgabe für H. Steinthal, Tübingen 1989, 336-372; zustimmend G. Binder: Pallida Mors. Leben und Tod, Seele und Jenseits in römischen und verwandten Texten, in: ders. / B. Effe (Hg.): Tod und Jenseits im Altertum, Trier 1991, 203-247; ablehnend vergleiche H. Funke: Dulce et decorum, in: Scripta Classica Israelica 16 (1997), 77-90, sowie K.-W. Welwei / M. Meier: Der Topos des ruhmvollen Todes in der zweiten Römerode des Horaz, in: Klio 79 (1997), 107-116; gegen Welwei / Meier vergleiche wiederum G. Binder: Kriegsdienst und Friedensdienst. Über "politische Lyrik" und die 2. Ode des Horaz "An die Jugend", in: Acta Antiqua Academiae Scientiarum Hungaricae 39 (1999), 53-72, mit der Antwort von M. Meier: Tyrtaios - Die Entstehung eines Bildes, in: Antike & Abendland 49 (2003), 157-182; die Diskussion reisßt nicht ab, vergleiche zuletzt wieder im Sinne Lohmanns P. Wulfing: Dulce et decorum est pro patria mori. Zur Geschichte einer Interpretation. Von Bertolt Brecht bis heute, in: Studii Clasice 34-36 (1998-2000), 59-67.
[2] Vergleiche W. Schadewaldt: Richard Wagner und die Griechen I-III, in: ders.: Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur in zwei Bänden, Bd. 2, 2. Auflage, Zürich / Stuttgart 1970, 341-405. Zu Schadewaldts Intentionen siehe J. Deathridge: Wagner, the Greeks and Wolfgang Schadewaldt, in: Dialogos 6 (1999), 134-140.
[3] Zu Gibbons Klassiker über den Niedergang des Römischen Reiches vergleiche jetzt auch W. Nippel: Der Historiker des Römischen Reiches: Edward Gibbon (1737-1794), in: Edward Gibbon. Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Bis zum Ende des Reiches im Westen, Bd. 6, München 2003, 7-114.
Mischa Meier