Marita Krauss: Die Frau der Zukunft. Dr. Hope Bridges Adams Lehmann, 1855-1916. Ärztin und Reformerin, München: Buchendorfer Verlag 2002, 204 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-934036-91-8, EUR 15,00
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Frauengeschichte und speziell Geschichte über Frauen in der Medizin erfreut sich seit mehreren Jahren wachsender Beliebtheit. Zahlreiche Söhne und Töchter Klios und Äskulaps suchen in harmonischer Parallelität herausragende (weibliche) Personen dem Dunkel der Geschichte zu entreißen. Die zeitgenössischen Begleitumstände erfahren Beachtung, solange sie im direkten Kontext zur weiblichen Emanzipation im Ärzteberuf zu stehen scheinen, das undefinierte "Privatleben" der Protagonistin rückt häufig stark in den Hintergrund. Stattdessen wird bisweilen der Versuch unternommen, die historischen Persönlichkeiten in ein modernes Theoriekonstrukt (Gender) einzubinden, womit die Gefahr besteht, dass historische Gegebenheiten, Zufälle oder Entwicklungen als solche nicht immer erkannt werden können.
Marita Krauss ist es gelungen, das faszinierende und in Teilbereichen einzigartige Leben der 1855 in England geborenen politisch engagierten Ärztin und Sozialreformerin Hope Bridges Adams Lehmann in all seinen Aspekten wiederzugeben.
Lehmann gehörte der ersten Generation von Ärztinnen in Deutschland an. Sie kam 1873 von England nach Dresden, lernte die deutsche Sprache und schrieb sich 1876 als Hörerin an der Universität Leipzig ein. Nur aufgrund der Freundlichkeit einiger Professoren und gegen geltendes Recht studierte sie Medizin und schloss das Studium mit dem (inoffiziellen) Staatsexamen 1880 ab, ging dann aber nach Bern zur Promotion. Nach Weiterbildungen und Praxiserfahrung kehrte sie 1882 nach Deutschland zurück, wo sie 1904 die Approbation erhielt.
Sie verfasste ein erfolgreiches Gesundheitsbuch, hielt Vorträge und betätigte sich als Gesundheitsreformerin. Nebenbei verstieß sie gegen die wichtigsten Konventionen ihrer Zeit: Sie ließ sich aus Liebe zu einem jüngeren Mann scheiden, wobei man sich das Sorgerecht für die zwei Kinder teilte. Anstatt das bürgerliche Leben als Ärztin zu genießen, arbeitete Lehmann mit ihrem neuen Ehemann auf der Seite der Sozialdemokratie und der exilierten Bolschewiki. Lenin war gelegentlich zu Gast und nutzte Lehmanns Anschrift als Deckadresse.
Zur gleichen Zeit betätigte sich die Ärztin und Mutter samt Ehemann im Alpenverein, der zu einer Art Schmelztiegel sich im Alltagsleben aufs heftigste befehdender Gesellschaftsgruppen avancierte. Gerade für die Herausarbeitung dieses sozialgeschichtlich hochinteressanten Aspekts verdient Krauss besonderes Lob.
Weiterführende Pläne zu einem Reformkrankenhaus für Mütter musste Adams Lehmann 1914 aber begraben, da die ihren Plänen abgeneigt gegenüber stehenden Teile der Ärzte- und Schwesternschaft einen Prozess wegen angeblicher Massenabtreibungen anstrengten. Nach Kriegsbeginn suchte die Pazifistin Lehmann in England und Deutschland Unterstützung für ihr Projekt, scheiterte dabei jedoch. Der Tod ihres geliebten Mannes scheint sie ihres Lebenswillens beraubt zu haben, sodass sie wenig später freiwillig aus dem Leben schied.
All diese Aspekte in ein 200-seitiges Buch einzufügen, logisch zu verknüpfen und in einen historischen Gesamtzusammenhang zu überführen ist Marita Krauss in geradezu vorbildlicher Weise gelungen. Dabei war die Quellenlage mehr als schwierig: Es gab keinen Nachlass, die vielfach ins Buch eingefügten Bilddokumente waren weit verstreut und die wenigen Lehmanns betreffenden Akten zuvor nicht im Blickwinkel der Historiker gelegen. Die lebendige Sprache des Buches begeistert alsbald den Leser, aber die Biografie von Hope Bridges Adams Lehmann scheint zumindest in einem Punkt die Autorin ihrer Objektivität beraubt zu haben.
Im Zusammenhang mit dem strafrechtlich bedeutungslosen - das gesellschaftliche Ansehen aber beschädigenden - Abschluss des Strafverfahrens wegen angeblicher Massenabtreibungen stellt Marita Krause jegliche sozialeugenischen Aspekte in Lehmanns Wirken in Abrede. Dieser nachträglichen Hagiografie ist zu widersprechen, eine Auseinandersetzung mit diesem nur in der historischen Rückschau als Widerspruch in Leben und Werk von Lehmann zu deutenden integralen Aspekt ihres Schaffens hätte sowohl Autorin als auch Protagonistin genutzt.
Gleichwohl ist die biografische Studie von Marita Krauss über Hope Bridges Adams Lehmann als vorzüglich gelungen zu bezeichnen. Die Autorin hat erfolgreich privates Leben, öffentliche Wirkung und persönliche Lebensleistung der Protagonistin verbunden und dabei zugleich das Bild einer ganzen Epoche nachgezeichnet. Prädikat: Unbedingt lesenswert.
Florian Mildenberger