Antoinette Roesler-Friedenthal / Johannes Nathan (eds.): The Enduring Instant / Der bleibende Augenblick. Time and the Spectator in the Visual Arts / Betrachterzeit in den Bildkünsten. Eine Sektion des XXX. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte, London, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2003, 336 S., mit z.T. farb. Abb., ISBN 978-3-7861-1704-9, EUR 48,00
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Der vorliegende Sammelband - hervorgegangen aus Beiträgen zu einem Sektionsthema beim XXX. Internationalen Kongress für Kunstgeschichte in London im Jahr 2000 - bietet aspektreiche Analysen und Forschungsansätze zur rezeptionsästhetischen Bedeutung der Zeit in den bildenden Künsten. Die Herausgeber des Bandes bezeichnen die Rezeptionstheorie als eine seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in der kunstgeschichtlichen Forschung wohl verankerte Disziplin; auch räumen sie ein, dass es gegenwärtig viele Studien zum Thema Bild und Zeit gebe und belegen dies durch umfangreiche bibliografische Angaben (Einleitung 44 ff., Anmerkung 7); nicht aber seien die möglichen Zeitmodi der Kunstwahrnehmung, das heißt die 'Betrachterzeit', bislang hinreichend berücksichtigt worden. Hierzu ist zu sagen, dass sich die so genannte 'Betrachterzeit' von den Manifestationen der Temporalität in den Bildwerken selbst sinnvollerweise gar nicht trennen lässt. Der für das Kunstwerk sensibilisierte Rezipient wird bei seiner Wahrnehmung für gewöhnlich nicht nur der dargestellten Zeit, sondern auch der Gestik, Dynamik und Struktur, das heißt der 'intrinsischen Zeit' des Werkes, entsprechen wollen. Auf die erhellende Kategorie einer 'intrinsic time', schon im Jahr 1949 von Etienne Souriau verwendet, weist Hilde Van Gelder in ihrem kritischen Beitrag zur vermeintlichen "timelessness" von Bildwerken (131 f.) hin. Die wenigsten Autoren und Autorinnen dieses Bandes gehen jedoch den Wirkungen jener impliziten Zeit auf den Betrachter genauer nach (Ansätze gibt es bei MacNamidhe und Kemp). Überwiegend gilt der zeitliche Betrachtermodus als durch die Ikonografie des Bildes, durch inhaltliche, nicht so sehr durch strukturelle Bild- und Architekturelemente ausgelöst. Es geht um betrachtende Nachvollzüge der im Bild symbolisierten oder metaphorisierten Zeit, was zu der anderen Ortes kritisierten Haltung des stabilisierten Blicks (gaze) führt, einer einseitigen Bildrezeption, bei der der körperliche Einsatz (Bewegung der Augen und Glieder des Betrachters) auf ein Minimum beschränkt wird (Hierzu der im Sammelband durch Jörgensen (178) genannte Norman Bryson mit Vision and Painting. The Logic of the Gaze, 1983).
Die durchweg englischsprachigen Beiträge profitieren für das Konzept der Betrachterzeit von dem entsprechenden Wortreichtum des Englischen für die Charakterisierung der Gesichtswahrnehmung und ihrer zeitlichen Dimension. Besonders eindrucksvoll ist Jörgensens Beitrag, in dem die sukzessive Wahrnehmung mittelalterlicher Kirchenräume Spaniens mit ihrer liturgisch bestimmten Gliederung als eine Steigerung vom flüchtigen 'glimpse' und 'glance' bis zur Präfiguration einer idealisierten, zeitlosen Schau (eines 'gaze') beschrieben wird.
Der Sammelband vermittelt den Eindruck, dass man hinsichtlich der Probleme der Betrachterzeit einer verbindlichen Systematik noch entbehrt. Dem Desiderat, überhaupt einmal schwerpunktmäßig die Zeit der Rezeption zu thematisieren, kommen die Aufsätze des Bandes unter so verschiedenen Gesichtspunkten nach, dass man als ihr gemeinschaftliches Motto dasjenige aus dem Faust-Vorspiel vermutet: "Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen." Das heißt, man erhält von den überwiegend qualitätsvollen Beiträgen wohl vielfache Anregungen zum eigenen Verfolg der Thematik; so etwas wie der 'Stand der Forschung' hinsichtlich der Betrachterzeit will sich jedoch nicht abzeichnen. Vielleicht ist es ja auch ein sinnvolles Forschungsverfahren, zunächst einmal ein möglichst breites Spektrum der Zeitmodi des Betrachtens zu entfalten. Die hier behandelten Modi reichen von der quasi zeitlosen ganzheitlichen Schau (Clement Greenbergs These, kritisiert von Hilde Van Gelder), über den flüchtigen Hinblick bis zum anderen Extrem, einem andauernden, potenziell unabschließbaren Prozess der Werkerschließung (siehe Beitrag Grieners). Die Zeit wird als säkularisierte, ja geradezu technisierte (bei Wolfgang Kemp) ebenso verhandelt wie als geheiligte (bei Peter Higginson) und als künstlerisch vergöttlichte (bei Cynthia P. Atherton). Ebenso umfangreich und vielfältig ist das historisch bestimmte Spektrum der Kunstwerke, auf die Bezug genommen wird: Die Beispiele reichen von der klassischen griechischen Antike bis zur Gegenwart.
Unter der Überschrift "Decisive Moments" befasst sich der erste Teil des Buches mit dem im Bildwerk zur Darstellung gebrachten Augenblick und den damit verbundenen Rezeptionswirkungen im Bezug auf die Zeit. Das ist zum einen die vom Betrachter imaginierte temporale Situation, die sich auf die Bildbedeutung bezieht, zum andern ist es der Zeitaufwand für die Bildrezeption, der sehr stark variieren kann. Man könnte dabei die imaginierte Zeit von der erlebten Zeit der Rezeption unterscheiden. Terminologische Strenge und Unterscheidungskraft sind jedoch nicht so sehr Kennzeichen der vorliegenden Beiträge, vielmehr imponieren sie durch die Feinheit und Vielfalt der Beobachtungen und die Souveränität der vergleichenden Betrachtungen im Feld der Kunstgeschichte.
Grundlegend für die Einschätzung der künstlerischen Darstellung des besonderen Augenblicks ist der Hinweis John Shearmans auf die in der Renaissancemalerei aufkommende Bildwürdigkeit einer Augenblickssituation. Er erklärt sie aus der Anlehnung an das Ideal des "Vor-Augen-führens", wie es die antike Rhetorik und Poetik anstrebte, um die Lebhaftigkeit und Überzeugungskraft einer Sache herbeizuführen. (56) Damit ist das 'Entscheidende' des dargestellten Augenblicks der zu erwartende Effekt, das heißt die emotionale und intellektuelle Herausforderung für den Betrachter. Mindestens vier Arten solcher Herausforderung sind in den Beiträgen zu beobachten: 1.) Durch den entwicklungsfähigen Augenblick (insbesondere bei Shearman); hier kommt Lessings 'fruchtbarer Augenblick' ins Spiel. Der Betrachter beschäftigt seine Imagination mit dem Davor und Danach des dargestellten Augenblicks. Herausforderung auch durch den extrem verdichteten Augenblick (siehe bei MacNamidhe). Es geht um die temporale und dramatische Zuspitzung des gewählten Moments. 2.) Durch die Darstellung des nur technisch zu produzierenden, entfremdeten Augenblicks. (Geimer) 3.) Durch den atmosphärisch bedrückenden, unheimlichen Augenblick. (Kemp) 4.) Durch notwendig erscheinende, lang dauernde sukzessive Rezeptionsschritte (Griener) bei der Bildwürdigung. Man könnte vom sich verschließenden Augenblick und von der Betrachterzeit als fortgesetzte Bemühung sprechen. Im Beitrag von Bätschmann werden die Desiderate behandelt, die Alberti beim Künstler wie beim Betrachter ansetzt, um jene lebendige Reflexion und das kennerhafte Urteil in Betrachtung von anspruchsvollen Kunstwerken auszulösen.
Dass und wie der narrative Bildgehalt ein bestimmtes Zeitbewusstsein befördern kann, vermittelt der Beitrag von Kumiko Maekawa und ist damit paradigmatisch für die Tatsache, dass die Autoren und Autorinnen temporale Aspekte vor allem an dargestellten Zeitgestalten, nicht so sehr an der nachvollziehbaren Darstellungszeit der Bilder erörtern. So wird der Betrachter zur Auflösung des "gefrorenen Augenblicks" den Beiträgen zufolge durch die Bildsemantik und das Weiterspinnen seiner Bildgeschichte veranlasst, nicht aber durch Mit- und Nachvollzug des körperlichen Einsatzes, den der Bildproduzent geleistet und manifestiert hat. (Abweichende Überlegungen etwa im Beitrag Frangenbergs und Getsys bedingt durch die Medien Fresko und Skulptur) Bildfügung, Bildrhythmus und Ähnliches werden für die Betrachterzeit zu wenig veranschlagt. Das heißt: Das Bild wird - trotz Hinweisen auf seine imaginativen Entwicklungspotenziale - noch zu sehr als Resultat, zu wenig als Ausdruck eines Prozesses verstanden. Geringe Ansätze zu letzterem finden sich bei Wolfgang Kemp, der kompositorische Phänomene für die Generierung des Zeitbewusstseins veranschlagt, zum Beispiel bei der erzwungenen Unruhe und Wanderschaft der Augen des Betrachters bei Klingers Bild "An der Mauer". (111 ff.)
Resümierend lässt sich feststellen, dass die vorliegenden Analysen dazu geeignet sind, das temporale Rezeptionsproblem nicht nur an bildnerischen Kunstwerken und damit für die Kunstgeschichte zu erschließen, sondern auch allgemein für eine Bildwissenschaft.
Als Gegenwehr gegenüber einer jeden ungemäßen Forderung nach Theoretisierung und Systematisierung der 'Betrachterzeit' sei hier abschließend die Folgerung zitiert, die Hilde Van Gelder zu Recht aus ihrer Analyse gewinnt: "The perception of art is fundamentally subjective, and the best we can obtain is a consensus on the experience it conveys." (132)
Brigitte Scheer